22/1  Beim Wort nehmen

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 23:26

Ich würde, schrieb ich gestern, heute nochmals auf die laufende Kampagne zu sprechen kommen. Sie haben sicher die Plakate gesehen mit dem extrabreiten Schlitten, dem Kindervelo mit dem Riesensesseli und dem Moped mit dem Giga-Sattel… und dann ist da auch der extrabreite Schülerstuhl. Oder haben Sie den TV-Spot schon gesehen? Da ragt eine Wippschaukel aus Stahl von der Seite ins Bild, und in der Höhe, auf der Schaukel, schwebt ein Vater, während eine Kindestimme aus dem Off sagt: Papa, mir ist langweilig, komm, wir gehen wieder fernsehen.

Der TV-Spot hats in sich. Beim ersten Anblick geht es noch zu schnell. Doch kaum ist er vorbei, beginnt man zu kombinieren: Wenn das Kind auf der andern Seite der Schaukel sitzt, muss es ja schwerer sein als der Vater! Wenn es jetzt aufsteht, um TV zu gucken, dann knallt der Vater ganz schön auf den Boden… und wenn es so schwer ist, kann das etwas damit zu tun haben, dass es immer vor dem Fernseher hockt?

Die Kampagne zeigt Bilder. Eindrückliche Symbole, die provozieren, vielleicht einen Moment ratlos machen, sogar in eine falsche Richtung weisen können, die aber als Signale haften bleiben. Man nimmt sie zur Kenntnis. Und wenn man später in der Zeitung ein Inserat mit den gleichen Bild sieht, liest man den Text. – Dieser allerdings hat einen doppelten Boden.

Die Schweiz wird immer dicker steht da, und dahinter ein Zusatz: Es braucht wenig, um viel zu verändern. – Dieser zweite Teil ärgert Leute, die sich beruflich mit der Übergewichts-Problematik befassen. Er hat auch mich irritiert. Eine solche Aussage ist eine schallende Ohrfeige ins Gesicht von Menschen, die ein Leben lang darunter zu leiden hatten, dass sie zu dick waren und die alles versucht haben, um wenigstens ein wenig zu verändern…

Aber diese Leute, die sich betroffen fühlen, seien gar nicht gemeint, sagen uns die Verantwortlichen für die Kampagne. Angesprochen werde die gesamte Bevölkerung und vor allem jene, die noch nicht übergewichtig sind. – Die Betroffenheit der Betroffenen wäre somit quasi ein emotionaler Kollateralschaden… – Bedenkt man die Mechanik der Medienwirksamkeit, so ist das zweifellos richtig. Aber das Betroffensein ist für die Betroffenen eine schmerzliche Realität, ob sie nun gemeint waren oder nicht.

Eine Bekannte, die von Kind auf wegen ihres Übergewichts gehänselt und geplagt wurde und die heute, nach chirurgischen Eingriffen 55 Kilo abgenommen und zu einer „normalen“ Figur gefunden hat, sagte mir: Als ich vor dem Plakat mit dem XXXXXL-Stuhl stand, da kam in mir die ganze Erinnerung an alle Demütigungen und Verspottungen in meiner Kinderzeit wieder hoch…

Das war so von den Kampagnenmachern sicher nicht gewollt. Vielleicht auch nicht bewusst in Kauf genommen. Aber es passiert nun. Und es passiert genauso, wie jene Aussage eines Kindes zu seinr Mutter, angesichts des grossen Mofa-Sattels: Mama, ich will im Fall nie dick werden!

Was finden Sie, beim Anblick dieser Plakate in der helvetischen Öffentlichkeit? Rütteln sie auf? Sensibilisieren sie? Sprechen sie das Problem an? Verwirren sie? Oder diskriminieren und verhöhnen sie am Ende die Übergewichtigen, indem sie sie zu Sündenböcken stempeln, die schuld dafür sind, dass es breite Sitze braucht, ihnen aber keine Lösung bieten?

Nehmen Sie die Bilder beim Wort. Ich bin gespannt.


4 Kommentare zu “Beim Wort nehmen”

  1. Lukas Boesch sagt:

    Wieder eine Kampagne, die die Problematik mit ziemlich sinnlosem Aktivismus angeht. Wie schon im Blog erwähnt, diskriminiert die Botschft übergewichtige Menschen. Der propagierte präventive Nutzen auf noch normalgewichtige Menschen wird ausbleiben, wie übrigens bei all diesen Kampagnen in den vergangenen Jahren. Es könnte sogar das aktive Abnehmen normalgewichtiger, die sich zu dick fühlen fördern und damit das ach so chic daherkommende Untergewicht begünstigen. Wer stoppt endlich diese potentiell schädlichen Kampagnen?

  2. Bea sagt:

    Ich bin auch schon seit Jahren gezwungen, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

    In meinem Bekanntenkreis, in dem Dicke zwar weder verspottet noch ausgegrenzt werden spüre ich doch ein Unverständnis für das Problem. Die Meinung, dass es nicht viel braucht, „man müsse nur wollen“, ist in der Bevölkerung weit verbreitet.

    Sollte ich es je schaffen, ein Normalgewicht zu erreichen, könnte ich alle Tipps, die ich schon ungefragt bekommen habe in einem Buch veröffentlichen.

    Dick sein ist unangenehm. Neben körperlichen Beschwerden, gesundheitlichen Störungen, ästhetischen Gesichtspunkten usw fühlt man sich oft ausgestellt. Jeder Mensch hat Probleme, aber unser Problem ist unübersehbar.

    Ob die Kampagne irgendwem nützt, kann ich nicht beurteilen, aber es trägt auch bestimmt nicht zur grösseren Toleranz gegenüber Dicken bei.

  3. Seifee sagt:

    Ich schliesse mich inhaltlich meinen beiden Vorkommentatoren an. Solche „Werbung“ macht mich betroffen und ich fühle mich diskriminiert. Wenn ich vor solch einem Plakat stehe fühle ich, dass mich die Leute anstarren (oder ich bilde es mir zumindest ein) und denken: Das ist jetzt genau so eine Dicke!!!

    Was mich besonders geärgert hat: ebalance ist (Werbe)-Partner auf dieser Website….fliesst mein Geld, das ich an die NZZ zahle sogar in diese Kampagne?? Schade für’s Geld, ich denke eBalance könnte anders werben….. Aber das Programm ist für mich sehr gut, daran gibt es nichts zu rütteln.

  4. Susi sagt:

    Auch ich kämpfe, wie viele andere mit dem Übergewicht. Aber gerade mich hat der Spruch ‚es braucht wenig um viel zu ändern‘ motiviert.
    Jeden Tag eine Stunde leichtes Laufen statt vor dem Fernseher und das umstellen der Essgewohnheiten (weniger Süssigkeiten) liessen einige Kilos purzeln. Nicht soviel wie ich erhoffte, aber wenn ich dabei bleibe, werden es sicher noch ein paar Kilos weniger.
    Ich finde die Kampagne sehr gut. Nur die Antwort des Papas auf der Schaukel ‚also guet‘ ist so typisch für viele von uns.
    Auf jeden Fall bleibe ich dabei und mache weiter.

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