12/8  Tuscheln

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 20:30

Hier in der Kurklinik grüsst man sich freundlich, wenn man sich im weissen Bademantel beim Lift trifft oder wenn man zum Essen unterwegs ist. Wer an Krücken geht, nimmt mit Interesse den Zustand seiner Nachbarin, seines Nachbarn zur Kenntnis. Manche sprechen mich an, weil sie mich oder mein Bild schon irgendwo gesehen haben. Viele wissen den Namen oder so ähnlich. Einen tapferen Annährungsversuch hat der Gast gemacht, der mich in breitem Berndeutsch an der Bar ansprach: Grüessech, gäuet, dir syt doch der Herr Lugibüehl! Und ein anderer, der sich zuerst schüchtern näherte, war vor 40 Jahren im Militär meine Of-Ordonnanz.

Wenn neue Gäste kommen, gibt es neue Begegnungen. Heute Morgen beim Frühstück. Ich setze mich an den Tisch neben zwei gestandenen Frauen, aus Zürich, so wie sie reden. Und während ich meine übliche Bestellung aufgebe, höre ich unterdrückte Wortfetzen mit, die sie austauschen: …der vom Fernsehen… mit den Dicken… hat mit dem Arzt zusammengearbeitet… der dann gehen musste… du weisst doch…– Und ich merke, wie sie mich von der Seite mustern.

Dann kommt der erste Teller mit dem Rührei und den kross gebratenen Specktranchen, und bald das zweite Tellerchen mit den Käsestücken und dem Bündnerfleisch… und ich sehe förmlich in der Luft die unausgesprochenen Sätze mit den Ausrufezeichen: Der sollte doch abnehmen! Kein Wunder, ist der so dick! Das will ein Vorbild sein? Geht es noch? – Aber diese Sätze werden nicht formuliert, auch nicht leise gezischelt, obwohl sie unüberhörbar vorhanden sind.

Ich überlege mir, ob ich selber etwas sagen soll. Ob ich einen Karton zum Aufstellen machen müsste: Dies ist eine ketogene Ernährungsweise, ohne Kohlenhydrate, damit habe ich – auf ärztliche Empfehlung – in drei Wochen bereits acht Kilo abgenommen… – Aber ich verzehre in aller Ruhe weiter mein Frühstück. Die beiden Damen erheben sich und verabschieden sich mit einem vielsagenden Blick… aber vielleicht habe ich mir das alles auch nur eingebildet. So eine Art Kur-Psychose…