22/4  Fat History

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 23:27

Ich weiss nicht so recht, was der Beitrag im heutigen Tages-Anzeiger bedeuten sollte. Ein Medizinhistoriker berichtete über Adipositas-Befunde aus früheren Zeiten, aufgrund von Arztprotokollen aus dem 14. bis 18. Jahrhundert. Systematisch sei die Anzahl adipöser Patienten damals zwar nicht erfasst worden. Berichtet habe man in erster Linie von extrem übergewichtigen Menschen, die auffällig aus der Norm geschlagen hätten. Und es müsse schon früher nicht wenige Dicke gegeben haben, die Adipositas-Epidemie sei daher nicht allein den heutigen Essgewohnheiten anzulasten, da auch schon in alten Zeiten üppig geschlemmt worden sei.

Diese Aussage scheint mir etwas speziell. Die Beweisführung hinkt. Unbestritten ist die Tatsache, dass es zu allen Zeiten stattliche Figuren gegeben hat, nur waren diese damals ein Symbol für Wohlstand, dem Respekt gezollt wurde. Fettbäuche setzten jene an, die luxuriös speisen konnten und über genügend Mittel verfügten, um die anstrengenden Arbeiten durch Dritte verrichten zu lassen und Wegstrecken in der Kutsche, zu Pferd oder gar per Sänfte zurückzulegen. Dass der einfache Pöbel oft Hunger litt und mager blieb ist auch eine historisch gesicherte Erkenntnis.

Mit der Übergewichts-Epidemie ist es wie mit fast allen „Segnungen“ der Zivilisation: als es nur einzelne wenige gab, die davon betroffen waren, blieb das Phänomen etwas Besonderes, ja Bewundernswertes. Als Marco Polo ins Land der aufgehenden Sonne reiste und Livingstone die Ursprünge des Nils erkundete, da waren solche Expeditionen eine bestaunte Sensation… erst als die Neckermänner wie Heuschreckenschwärme zum Billigtarif in die fernen Naturparadiese einfielen, wurden sie zur kulturbedrohenden Landplage. Als vereinzelte Automobile knatternd und rauchspuckend durch die Landschaft ruckelten wurden sie ehrerbietig bestaunt… erst als auch der Nachbar sich einen Zweitwagen anschaffte, versanken Stadt und Land in der Blechlawine. Und solange bloss einige Künstler und Intellektuelle sich das weisse Pulver in die Nase zogen, galt dies als szenisch und schick… das Elend brach erst aus, als der Stoff die Masse der Jungen und der Gestressten überschwemmte.

Erst die Demokratisierung, die massenhafte Verbreitung, die Gleichmacherei lassen eine Errungenschaft zum Fluch, zum Übel werden. Und der Anspruch aller, „auch“ am Fortschritt teilhaben zu dürfen, ist legitim. Verzicht kann nicht eingefordert werden. Aber Regelungen sind nötig. Der gleiche Staat, der den Fortschritt ermöglicht hat, ist in der Pflicht, ihm auch Grenzen zu setzen, wenn es ums Wohl der Allgemeinheit geht.