20/9  Doch keine Verschwörung?

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 16:51

Ich weiss noch gut. Es war Ende der Neunzigerjahre und der Adipositas-Spezialist, den ich mit meinen damals 165 Kilo Lebendgewicht aufgesucht hatte, empfahl mir dringend, weniger Fett zu essen. Kohlenhydrate könnte ich bedenkenlos zu mir nehmen, ohne auf die Menge zu achten, denn die würden vorneweg verbrannt und könnten sich nicht im Körper als unverbrauchte Fettreserve einlagern.

Inzwischen hat sich der momentane Stand des Irrtums – genannt Wissen – merklich verändert: Fett ist aus der Schmuddelecke zurück gekehrt in den Kreis der reputierlichen Nährstoffe, dafür sind die Kohlenhydrate – allen voran der Zucker, im Übermass genossen – ins Fadenkreuz der Anklage geraten: gut 160 Gramm Zucker verzehren wir täglich, bewusst und unbewusst, während die Weltgesundheitsorganisation WHO dringend rät, den Tageskonsum auf maximal 25 Gramm zu beschränken.

Und der Zucker ist als der Übeltäter entlarvt, der die Aufpolsterung der Fettzellen anregt und befördert.

Vor wenigen Tagen erregte eine Publikation weltweit Aufsehen, in der dargelegt wurde, wie die Zucker-Industrie schon in den Sechzigerjahren die öffentliche Meinung mit „gekauften“ wissenschaftlichen Studien beeinflusst habe, dass kein Zusammenhang nachzuweisen sei zwischen Zuckerverzehr und Gesundheitsrisiken, insbesondere Herz-Kreislauf-Beschwerden. Das Fett wurde an den Pranger gestellt. Inzwischen hat sich eine „Ernährung mit weniger Kohlenhdraten“ auf breiter Basis in den Empfehlungen zur Gewichtsreduktion etabliert, von LowCarb über Paleo bis zur ketogenen Diät…

Aber schon kommt wieder eine Gegendarstellung: die Beschuldigungen gegenüber der Zucker-Industrie und insbesondere der Vorwurf der Bestechlichkeit an namhafte Wissenschafter (die inzwischen notabene verstorben sind) entsprängen einem zwanghaften Vorurteil der Verfasser des entsprechenden Berichts, sie seien der Versuch, die amerikanische Ernährungsgeschichte rückwirkend „neu zu schreiben“ und die Faktenlage dazu sei extrem dürftig, denn die Zucker-Leute hätten damals lediglich eine Meta-Analyse der bereits vorhandenen Studien in Auftrag gegeben. Was dabei resultiert habe, reflektiere nichts weiter als den damaligen Stand des allgemeinen Wissens und sei mitnichten eine willkürliche Verfälschung wissenschaftlicher Erkenntnisse gewesen, wie nun im Nachhinein unterstellt werde… Von der behaupteten „Verschwörung“ könne keine Rede sein.

Wie auch immer: die Forschung geht weiter und es bringt nichts, an vergangenen Irrtümern und deren Ursachen oder Auswirkungen herum zu deuteln. Entscheidend ist, dass wir aus den gemachten Erfahrungen die richtigen Schlüsse ziehen und offen bleiben für neue Erkenntnisse, die hilfreich sein können. Auch mein damaliger Spezialist hat inzwischen dazugelernt.