12/1  Das schlechte Liftgewissen

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 22:42

Mein Büro ist an bester Lage im ersten Stock. Wenn ich morgens von der Tramstation oder vom Quartierbahnhof her die letzten paar hundert Meter zu Fuss über Kopfsteintrottoirs, Fussgängerstreifen, den laubbedeckten Innenhof ins Treppenhaus gelangt bin, dann habe ich den strengen Eindruck, dass ich den ersten Teil meines physischen Tagesprogramms bereits absolviert habe.

Ich stehe vor der Lifttür und weiss: Nach allen Regeln der Abnehmkunst wäre es jetzt dringend angesagt, auch die beiden Treppen in den ersten Stock noch schwungvoll zu nehmen, um – wie in jedem Lehrbuch gut beschrieben – den Kreislauf mal kurz in Schwung und das Herz zum Klopfen zu bringen. Aber ich stehe vor dem Lift und spüre im Knie diesen sanft aber beharrlich stechenden Arthrose-Schmerz, der einen Hauch von Glassplitter an sich hat und der mich bei jedem Schritt daran erinnert, dass da immer noch einige Kilo zu viel sind.

Der Finger geht zum Knopf. Der Lift muss irgendwo in den oberen Geschossen sein, es dauert. Da tritt durch die Eingangstüre ein Mitarbeiter vom Sportamt aus dem vierten. Er weiss, dass ich nur in den ersten Stock müsste. Und wahrscheinlich weiss er auch, dass ich eigentlich wissen müsste, dass ich laufen sollte. Er schaut ostentativ an mir vorbei und eilt mit federnden Schritten treppauf… Ich warte.

Jetzt kommt ein Velokurier mit Umhängtasche und einem gequetscht vor sich hin maulenden Funkgerät an der Schulter. Er stellt sich neben mich und mein Sinn für fremde Wahrnehmungen sagt mir, was er denken müsste, wenn er mit mir in den Lift kommt und ich nach bloss einem Stock schon wieder aussteige.

Drum blicke ich auf die Uhr und tue so, als wäre ich in Eile und könnte nicht mehr warten, bis der Lift endlich kommt. Ich lasse den Schmerz Schmerz sein, packe mit meiner Rechten den Handlauf und ziehe mich so zackig, wie ich es erscheinen lassen kann, hinauf, wenigstens so lange, bis ich die Lifttüre unten sich öffnen und wieder schliessen höre und annehmen darf, dass der Velokurier eingestiegen ist. Nun geht es gemächlicher, Tritt für Tritt. Das Herz ist dennoch auf Touren, der Atem geht tief und ich beginne, ein ganz klein wenig stolz auf mich selber zu sein.

Jetzt bin ich oben, im ersten Stock. Neben mir geht die Lifttür auf. Der Velokurier kommt heraus. Er bringt ein Präparat in die Pathologie, die ihre Räume gleich neben uns hat. Ich brauche meinen ersten Espresso.