16/8  Härtefall

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 23:49

Das sind so Tage, an denen man am Abend noch einmal von vorne beginnen möchte. – Eigentlich hatte ich mir klare Ziele gesetzt, welche Arbeiten alle bis wann zu erledigen wären, und mir auch vorgenommen, konsequent dran zu bleiben und mich diesmal nicht von irgendwelchen Trivialitäten ablenken zu lassen.

Aber dann kam ein Telefon nach dem andern und eine Anfrage nach der andern… und ein Beratungsfall war darunter, der machte mich rat- und hilflos und irgendwie beschämt. – Schon vor einigen Tagen hatte sich ein Mitarbeiter eines regionalen Sozialdienstes bei uns erkundigt nach den rechtlichen Bestimmungen für die Kostenübernahme bei einer Magenbypass-Operation, nachdem diese für einen seiner „Klienten“ offenbar von einer Krankenkasse abgelehnt worden war. Ich wies ihn auf die eindeutige Rechtslage hin, welche klar den ablehnenden Entscheid der Kasse stützte.

Heute rief mich die Frau dieses Betroffenen an, in gebrochenem Deutsch, und schilderte mir das Problem ihres Mannes: Mit 63 Jahren ist er „zu alt“ für die Operation, die nach Auskunft der Ärzte zwingend ist, da er nach einer Bruch-Operation sich nicht mehr intensiv bewegen kann. Ich schicke ihr Adresslisten der besten Kompetenzzentren, um eine Risiko-Abschätzung vornehmen zu lassen und um zu prüfen, ob ev. übergeordnete Begleiterkrankungen und gesundheitliche Gefahren es angezeigt erscheinen lassen, den Eingriff doch noch auszuführen…

Aber noch ehe der Brief auf der Post ist, meldet sich der Mann selber: Seine Frau habe sich vielleicht nicht verständlich genug ausgedrückt. Es gehe nicht darum, noch neue Experten zu kontaktieren, sein Fall sei schon von Koryphäen in mehreren Kantonen beurteilt und jeweils weiter gereicht worden… Wenn er nicht mit dem Bypass abnehmen könne, so breche die Bruch-Operation wegen seines Übergewichts wieder auf… Ich erkläre ihm, dass die gesetzlichen Grundlagen nun mal so sind und wir zuerst diese verändern müssten, um etwas erreichen zu können.

Eine private Finanzierung kommt für ihn nicht in Frage, der Mann ist Sozialhilfe-Empfänger und hat eine kleine Rente von 800 Franken… Was soll ich denn machen, fragt er am Telefon. Soll ich ins Wasser? Muss ich mich aufhängen? Ich bin 63 Jahre alt, anerkannter Flüchtling, habe ich denn kein Recht auf Gesundheit?

Als unsere Stiftung vor acht Jahren gegründet wurde, war eines der Ziele die Schaffung eines Sozial-Fonds, aus dem man in solchen klaren Härtefällen eine Operation hätte finanzieren können. Wir kennen verschiedne vergleichbare Fälle (und das dürften wohl nicht alle sein). Um einen solchen Fonds zu speisen braucht es etewa eine Viertelmillion Schweizer Franken pro Jahr. Wenig Geld, wenn man an die Summen denkt, von denen im Zusammenhang mit Verlusten und Gewinnen etwa bei Pensionskassen oder Banken die Rede ist… Man müsste eine unabhängige Kommission einsetzen, welche diese Härtefälle unter allen medizinischen Gesichtspunkten prüft und sie für eine Therapie frei gibt.

Es wäre wundervoll, wenn private Gönner einen solchen Fonds äufnen würden… wenn die grossen Krankenversicherer gemeinsam einen solchen Fonds speisen könnten, mit dem sie sich quasi „freikaufen“ könnten vom immer wieder erhobenen Vorwurf, sie würden ohne Rücksicht auf menschliche Tragödien eiskalt ihre Richtlinien durchsetzen, nur um nicht zahlen zu müssen… – Aber eben: Übergewicht und Adipositas sind keine Symathie-Bringer. Noch nicht. Wenn man die berechtigten Emotionen betrachtet, die das traurige Schicksal des kleinen Luciano begleitet haben, dann realisiert man, in welcher Dimension „Betroffenheit“ entstehen kann. Übergewicht und seine Folgen werden noch immer von zu vielen Menschen undiffereziert als „selbstverschuldet“ betrachtet. Wer hat den Mut und straft dieses Vorurteil Lügen?