27/7  Spinne am Abend

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 23:43

Kennen Sie das Sprichwort noch? Spinne am Abend, erquickend, erlabend. Und das Gegenstück dazu: Spinne am Morgen, Kummer und Sorgen. Als Kinder haben wir uns vor den achtbeinigen Weberwesen gegraust und uns um die Bedeutung der Volksmund-Überlieferung foutiert: nicht, dass die Begegnung mit einem Spinnentier je nach Tageszeit Glück oder Unglück gebracht hätte – vielmehr meinte der Ausspruch die häusliche Arbeit in früherer Zeit: Wer am Abend sich zum Zeitvertrieb ans Spinnrad setzen und allenfalls in gemütlicher Tratschrunde mit Freunden und Nachbarn die Welt bereden konnte, dem ging es gut (und das war so quasi ein TV-Ersatz); aber wer schon frühmorgens sich sein Leben durch Spinn-Tätigkeit verdienen musste, dem gings nicht so prächtig, den plagten Finanzsorgen, der hatte Grund zu Kümmernis.

Später lernte ich dann die Tiere als Umweltpolizisten schätzen und respektieren. Mit ihren feinstgesponnen Netzwerken fingen sie so manche Fliege und Mücke weg und es gab gute Gründe, diese Netze nicht zu zerstören, solange sie nicht den Alltag beeinträchtigten… Nun aber, nachdem wir längere Zeit nicht mehr in unserem Feriendomizil gewesen waren, zeigte sich, dass die fleissige Netzknüpfersippe der irrigen Meinung war, wir hätten ihr unser Territorium einfach überlassen. Ein unglaubliches Dickicht an verwobenen Fäden hatte sich im Keller, in der Küche, im Estrich, an den Fenstern breit gemacht, kunstvoll zu Trichteranlagen geformt, aus denen es für fliegendes Ungeziefer zwar kein Entrinnen gab, die sich aber auch menschlichen Händen überall in den Weg stellten, sich in den Haaren verfingen, Kleider verklebten… kurz: Räumung war angesagt und die ganze Pracht verschwand nach einiger Zeit im Staubsaugerrohr.

Die Tiere selber konnten sich offenbar in Wandritzen oder sonstwo in Sicherheit bringen. Jetzt jedenfalls, am Abend, sind wie wieder da, checken vorsichtig die Lage und spannen wieder versuchsweise den einen oder anderen Faden… Ich werde sie mit einem Glas nach draussen befördern, dann können sie in den Spalierbäumchen weiter arbeiten und das flatternde Ungeziefer abfangen, um fette Beute zu machen… Es ist beeindruckend, mit welch unerschütterlicher Zuversicht diese Lebewesen zu Werk gehen, sich durch keinen Rückschlag beirren lassen (heute muss für ihresgleichen im ganzen Haus ja quasi Harmagedon gewesen sein, jüngstes Gericht und Weltuntergang zugleich) und von neuem beginnen, unbeirrt ihren Lebensplan umzusetzen und ein neues Netz zu bauen. – Davon könnten wir uns zuweilen eine Scheibe abschneiden, wenn wir grad wieder mal einen Rückschlag erlitten haben…