21/10 Der Fall
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 23:14 |
Heute Abend ist eingetreten, womit ich eigentlich nicht gerechnet habe, obwohl unter einer vernünftigen Risikobeurteilung eigentlich hätte davon ausgegangen werden müssen, dass es möglicherweise passiert.
Ich sass beim Nachtessen, leicht und bekömmlich, und wollte mir am Schluss mit einem Zahnstocher noch die letzten Reste sicher stellen… dazu drehte ich mich in meinem Stuhl zur Seite, lehnte mich etwas zurück, um das Glas mit den Holzstäbchen zu erreichen, das hinter mir in der Glasvitrine stand. Schon hatte ich das gesuchte spitze Objekt in der Hand, da spürte ich unter mir ein sanftes Ächzen und Kracken, und ganz langsam knickte ein Stuhlbein ein und weg, der Sitz neigte sich zur Seite, ich griff mit der andern Hand ins Leere und landete unsanft auf dem Hintern am Boden neben dem Tisch.
Das wäre an sich kein berichtenswertes Ereignis. Aber seit meiner Knie-Operation habe ich Mühe, von tief gelegenen Unterlagen wieder aufzustehen… niedrige Hotelbetten etwa sind mir ein Gräuel und zwingen mich am Morgen zu schmerzhaften Schwergewichts-Stemmübungen. Direkt vom Boden bin ich seit Wochen, seit Monaten nie mehr aufgestanden.
Und jetzt hockte ich in ganzer Fülle da, neben dem eingekrachten Stuhl, halb unter dem Tisch, und durch mein Gehirn zuckten verschiedenste Fantasien. Was, wenn ich nicht mehr auf die Füsse käme? Wenn ich hier liegen bliebe wie einst Gregor Samsa in Kafkas Verwandlung? Wenn die Feuerwehr kommen müsste und mich mit einem Kran wieder auf die Beine stellte? Oder die Sanität – nein, die Leute, die mich damals beim Herzinfarkt abholten, waren zierlich und könnten mich kaum in die Höhe stemmen… – So blieb ich vorerst einfach sitzen, bzw. legte mich hin, um in Ruhe nachzudenken.
Dann rutschte ich, wie ich als Baby durch die Wohnung gerutscht war, ehe ich laufen konnte, auf dem Hinterteil durchs Zimmer, querte den Wohnraum, machte mich Rutsch für Rutsch auf den Weg ins Schlafgemach, zum Bett. Dort legte ich mir aus Kissen und Decken ein Polster auf den Boden, wälzte mich zur Seite, zog das intakte Knie unter die linke Körperseite, klammerte mich am Bettrand fest und hievte mich Zentimeter für Zentimeter in die Höhe, schob das eine Knie nach, ohne das andere, das operierte, zu belasten, gewann langsam an Höhe und schaffte es schliesslich, mich mit dem Oberkörper auf die Bettkante zu legen. Ein Dreh – und ich war auf dem Bett.
Aufatmen und Erleichterung: ich befand mich wieder auf Augenhöhe mit dem Leben, konnte sitzen und aufstehen. Aber es bleibt das unangenehme Gefühl, was wohl wäre, wenn ich unterwegs, irgendwo draussen auf der Strasse, ins Stolpern käme oder auf einer Bananenschale oder nassem Laub ausrutschte… Nicht auszudenken! – So wird fortan mit dem Risiko zu leben sein, und Vorsicht ist angesagt. Man wird ja nicht jünger.