6/1  Der König

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 16:43

Noch nie ist er mir so mickrig vorgekommen wie in diesem Jahr, der kleine weisse König im Königskuchen. Ist er schon ein Opfer der Rezession? Hat man ihn extra materialsparend produziert, möglichst flach und schmal und konturlos?

Ich weiss nicht, wie weit meine Erinnerung an Dreikönigs-Könige in die Kindheit zurück reicht. Waren sie einmal aus Metall? Oder aus Porzellan? Es waren kunstvoll gestaltete kleine Persönlichkeiten, die man aufstellen konnte auf der Kommode, sie hatten klare, respektgebietende Gesichtszüge, trugen wallende Gewänder und die wahren Insignien der Macht. Man hatte sich ihnen im weichen Teig mit aller Vorsicht zu nähern, um nicht bei zu kräftigem Biss einen Zahn zu beschädigen…

Dann kamen das Plastic-Zeitalter und die Aera der political correctness sowie des Gender-Gleichgewichts: anstatt des Königs gab es in manchen Kuchen eine Königin, nicht minder eindrücklich ausgestaltet, aus Plastic zwar, aber aus einer soliden Sorte von Kunststoff. Und sie waren nach wie vor Persönlichkeiten von Rang und Ansehen, die den durch sie verliehenen Herrschaftsanspruch für einen Tag rechtfertigten.

Das dünne weisse Ding, das ich allerdings heute beim Kaffee aus meinem Kuchenbällchen gepult habe, ist schwer zu identifizieren. Es trägt statt einer Krone eine Art flache Mütze mit Rand, wie sie einst die Scholaren aufgesetzt hatten, statt Szepter und Reichsapfel hält es ein Kreuz vor der Brust als wärs ein Messdiener, das Gesichtlein zeigt keinerlei Profil und die viel zu kleinen Füsse schliessen strumpfbehoste Beinchen ab… ich bin enttäuscht und habe den ganzen Tag über keine eigentliche Lust verspürt, von der mir verliehenen Regentschaft Gebrauch zu machen. Und morgen ist man wieder Bürger.