19/3 Livebericht
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 21:39 |
Montag nach Mitternacht. Bis eins läuft auf SF 1 und DRS 3 die Talksendung Nachtwach. Letzten Montag, gut 20 Minuten vor ein Uhr, ist ein junger Mann am Telefon und seine Geschichte ist so erschütternd und gleichzeitig verrückt, dass man einen Moment sprachlos innehält und sich fragt, gibt es denn da keinen Ausweg? Er hat von sich aus die Öffentlichkeit gewählt, über diese Medienform, dei einen gewissen exhibitionistischen Reiz verströmt. Man gibt viel von sich preis und die Moderatorin, Barbara Bürer, hakt auf eine so entwaffnend neugierige und verständnisvolle Weise nach, dass man gar nicht anders kann als auf ihre Fragen offen zu antworten.
Der junge Mann, er nennt sich Tom, ist 29 Jahre alt. Vorauszuschicken ist, dass das Thema der Gespräche an diesem Montag Das letzte Mal hiess: Gespräche über Dinge, die man bewusst ein letztes Mal gemacht hat… Vor sechs Jahren, sagt Tom, habe er zum letzten Mal gegessen. Wie das? Ja, zum letzten Mal Lebensmittel zu sich genommen, die diesen Namen verdienten. Seither lebt er von Tabletten und von Astronauten-Nahrung, die er in der Apotheke bekommt. Er wiegt noch 50 Kilo bei einer Grösse von 176 cm. – Als Junge war er übergewichtig und litt darunter so sehr, dass er um jeden Preis sein Gewicht reduzieren wollte, er fühlte sich ausgeschlossen, konnte sich selber nicht akzeptieren in seiner Körperfülle. Er wollte eine Magenoperation. Ein erstes Spital, das er aufsuchte, lehnte den Eingriff ab. In einer Privatklinik fand er Gehör, damals war er 23 Jahre alt.
Es gab Komplikationen nach der Operation. Er konnte keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen, ohne dass es sogleich zum sogenannten Dumping kam: Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Durchfall, Bauchschmerzen oder -krämpfe, Schwitzen, Schwindel, Schwäche, Herzrasen und/oder Atemnot. Einundzwanzig weitere Operationen folgten… seine Bauchdecke sehe aus wie ein Schnittmuster… trinken kann er noch Wasser. Das Leben von Tom ist eingeschränkt, weil ihm ein wesentlicher Genuss-Inhalt verweigert ist: das Essen, als gesellschaftliches Erlebnis und als Befriedigung von oralen Gelüsten. – Wenn er einen Wunsch frei hätte, sagt Tom, dann wäre es, dass er wieder essen könnte… dass er gesund wäre… oder doch – räumt er am Ende ein – dass es ihm ein wenig besser ginge.
Das ganze Gespräch kann im Internet nachgehört werden, durch Anklicken des Bildes und und durch Vorschieben des Cursors auf der Zeitachse bis zu 36 Minuten und 45 Sekunden. – Ein Dokument, das für sich selber spricht, das betroffen macht und vieles offen lässt: was ist schief gelaufen? wo sind Fehler passiert? lässt sich heute, 6 Jahre danach, noch irgendetwas machen? oder muss Tom mit seinem Schicksal ein Leben lang zurechtkommen, so wie viele andere auch, die an speziellen und unheilbaren Krankheiten leiden? und was hätte beachtet werden müssen, damit ein solcher Fall nicht eintritt?
Fragen über Fragen, auf die wir vielleicht eine Antwort erhalten.