16/6 Das Volk spricht
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 16:27 |
Grosse Schlagzeile auf dem Titel des heutigen Blick: Zu dick für IV – Richter zwingen 250-Kilo-Mann Reto zum Abnehmen.
Die Geschichte ist im wahrsten Sinn des Wortes heavy. Reto Iseli ist 38 Jahre alt. Seit seiner Kindheit hat er Gewichtsprobleme, doch so richtig zugelegt habe er erst in der letzten Zeit. Seinen angestammten Beruf musste er aufgeben, er machte sich selbständig als Webdesigner und finanziert sich so seinen Lebensunterhalt, da er das Haus kaum noch verlassen kann. Mit extremen Diäten hat er mehrmals 60 bis 80 Kilo abgenommen… konnte das neue Gewicht aber nicht halten: der bekannte Jojo-Effekt. Sein Essen bestellt er sich im Internet, und das in reichlichem Mass, wenn die Fress-Attacken kommen. Nun hat er den Vorsatz gefasst, mit dem Abnehmen wieder mal ernst zu machen. Dazu möchte er von der Invaliden-Versicherung eine Rente, damit er sich voll aufs Abnehmen konzentrieren kann (so stehts in der Zeitung). Aber die IV lehnte den Antrag ab und das kantonale Verwaltungsgericht stützte den Entscheid: er habe ja bewiesen, dass er abnehmen könne, also solle er es wieder alleine machen, bis er arbeitsfähig sei. Adipositas an sich sei kein Grund für eine IV-Rente, es müssten schon massive körperliche oder seelische Schäden vorliegen.
Gut, das Blatt zeigte Reto Iseli in seinem umgebauten Auto, mit dem er ins Drive-In-Fastfood-Lokal fährt… und es druckt seinen Speisezettel in aller Ausführlichkeit ab. Damit sind gewisse Reaktionen aus dem Publikum natürlich programmiert. Und die lassen auch nicht auf sich warten. In der Online-Ausgabe prasseln die Kommentare nur so auf das Opfer herein: ich habe heute Nachmittag 84 Einträge gelesen, knapp die Hälfte davon sind wütende und verletzende Beschimpfungen, ausgehend von der Behauptung, die Übergewichtigen seien an ihrem Zustand „selber schuld“, da es ihnen an Willenskraft und Disziplin fehle… und es sei nichts als korrekt, dass die Gesellschaft solche Leute nicht auch noch über die IV oder die Krankenkasse finanzieren müsse…
Ein Viertel der Zuschriften stellt sich auf Retos Seite, bietet den Angriffen Paroli und macht darauf aufmerksam, dass Adipositas eine vielschichtige Krankheit ist, für die es keine simple Schuldzuweisung geben darf. Ein weiteres Viertel der Reaktionen zeigt Verständnis und erteilt Ratschläge, gibt Empfehlungen ab, möchte helfen. – Die Aufteilung der Meinungen spiegelt in etwa die Kräfteverhältnisse bei den Ansichten und Vorurteilen, mit denen auch wir fast täglich konfrontiert sind, wenn wir uns auf die Suche nach Sponsoren machen, um die Arbeit unserer Stiftung zu finanzieren. – Diese Gedanken konnte ich auch ausführen in einem Interview mit der Blick-Online-Redaktion. Es braucht noch viel Aufklärungsarbeit.