17/12  Das Problem

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 14:44

Die Ernährungsberaterin erzählt aus ihren Praxis-Alltag. Zu denken gegeben habe ihr, sagt sie, eine ihrer Klientinnen, die kürzlich in der Beratung gesagt habe, es sei für sie recht belastend geworden, dass man heute kaum eine Zeitung aufschlagen könne, in der nicht das Übergewicht thematisiert sei und wo sie über sich lesen müsse, dass sie „ein Problem“ sei… ein Problem für das Gesundheitswesen, für die Kostenexplosion, für die Lebenserwartung, für die Volkswirtschaft.

Es ist gewissermassen die Opfer-Umkehr-Philosophie: dicke Menschen „haben“ kein Problem, sie „sind“ eines, in grossen Teilen der öffentlichen Wahrnehmung wenigstens. Haben wir das wirklich so gewollt, als wir uns die „Sensibilisierung der Gesellschaft“ auf die Fahnen geschrieben haben? Lange wurde das Thema verdrängt, verschwiegen, nicht richtig ernst genommen in seiner langfristigen Bedeutung. Nun ist es in aller Munde und in jedem Blättchen und wir führen nicht ohne Stolz eine Statistik, in der alle Interviews und Statements und Publikationen verzeichnet sind, die u.a. dank unseren Bemühungen den Weg zum Publikum gefunden haben… und nun ist es auch wieder nicht recht!

Es ist eine Krux mit der Selbstwahrnehmung. Unser Lebensstil prägt uns in der Art und Weise, wie wir unser Leben erleben, ob wir es geniessen können, ob wir in den Tag hinein existieren oder ob wir gar daran zu leiden haben. Selbstwert und -achtung werden beeinflusst durch die Gefühle, mit denen wir uns selber begegnen. Und plötzlich entsteht der Eindruck, als würden jeder Genuss, jede Lebenslust verteufelt als eine Stufe auf dem steilen Abstieg in die Hölle der Verdammnis… Wer zu schwer ist, wird behaftet mit dem Stigma des Problems und sieht sich als Versager, wenn es ihm nicht gelingt, diesen Makel so rasch wie möglich abzuwenden.

Hier tut Gelassenheit Not. Ich bin der Ernährungsberaterin dankbar dafür, dass sie ihrer Klientin geraten hat, sich die Sache weniger zu Herzen zu nehmen. Das „Problem“ liegt weniger beim Einzelnen als in den Verhältnissen, die uns umgeben und die denen das Leben schwer machen, die entsprechend veranlagt sind. Neue Strategien sind gefragt.