9/4 Bundesstrafgericht
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 14:29 |
Es ist ein absolut unrühmlicher Entscheid, den das Bundesgericht am 19. März 2010 gefällt hat, ein eigentliches Strafgericht für schwer adipöse Menschen, die nicht mehr das Glück haben, knackig und jung zu sein.
Es geht um die bariatrische Chirurgie, also die Magenband- und Bypass-Operationen zur Gewichtsreduktion. Die Schweiz hat hier schon die strengsten Auflagen in ganz Europa: Der BMI muss grösser sein als 40, der Patient darf nicht älter sein als 65 und er muss schon alle anderen Methoden zur Reduktion seines Gewichts ausprobiert haben – ohne Erfolg und unter ärztlicher Aufsicht. Nur dann, und wenn zudem schwere Begleiterkrankungen vorliegen, sind die Krankenkassen bereit, die Kosten zu übernehmen.
Nun hatte ein 66jähriger Patient in Genf eine Ablehnung gerichtlich angefochten und das kantonale Versicherungsgericht hatte seine Einsprache gutgeheissen. Darauf hatte die betreffende Krankenkasse gegen dieses Urteil beim Bundesgericht rekurriert… Und das Bundesgericht hatte als höchste Instanz im Lande der Kasse Recht gegeben. Die Begründung – so wie sie von der NZZ zitiert wird – ist abenteuerlich und unglaublich zugleich. Es sind keine rechtlichen Erwägungen, die hier geltend gemacht werden, sondern „medizinische“ Aspekte. Wörtlich heisst es (gemäss NZZ), die Ablehnung der Operation sei zu Recht erfolgt, da ab einem Alter von 60 Jahren das Operationsrisiko zunimmt, während gleichzeitig die auf Fettleibigkeit zurückzuführende Mortalität signifikant sinkt.
Aus welcher Quelle die Richter (die einstimmig so entschieden haben) diese Erkenntnis schöpften, ist im Artikel nicht ersichtlich. Aber die Perspektive ist erschreckend und beängstigend: Wenn für die Gewährung einer medizinischen Leistung nur noch die Überlebenswahrscheinlichkeit den Ausschlag gibt, dann würde dies bedeuten, dass ein grosser Teil unseres Gesundheitswesens neu definiert werden müsste. Gerade eine schwere Adipositas hat massivste Auswirkungen auf die Lebensqualität eines Menschen. Sein ganzer Alltag muss sich nach den Erschwerungen und Komplikationen richten, die sein Übergewicht ihm auferlegt. Wenn er zudem an Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck und Diabetes Typ 2 leidet, so ist er zu dauernder Medikamenten-Einnahme verurteilt. Lebt er – was heute immer häufiger vorkommt – noch 20 bis 25 Jahre, so kostet dies die Öffentlichkeit und die Kassen ein Vielfaches dessen, was die Operation gekostet hätte, abgesehen davon, dass das Leben des Patienten wieder lebenswert würde…
In welcher Zeit sind wir denn, dass ein kurzsichtiges Renditedenken der profitgierigen Kassenwarte ganze Patientengruppen verunglimpfen und diskriminieren kann… und dass diese menschenverachtende Haltung von der obersten Gerichtsbarkeit noch gedeckt wird?