17/5 Akrasia
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 16:17 |
Zugegeben, der Begriff war mir nicht geläufig. Es ist möglich, dass ich ihm im Laufe meiner humanistischen Grundschulung einmal begegnet bin… aber damals hatte er noch keine Bedeutung für mich und brauchte also nicht aktiv wahrgenommen um später wieder identifiziert zu werden. Akrasia stammt aus der alten griechischen Philosophie und meint so viel wie Handeln wider besseres Wissen. Ein solches Verhalten wird als akratisch bezeichnet.
Ich bin beim Lesen über dieses Wort gestolpert, desen Bedeutung mir nicht sofort klar war. Es ging um ein neues Buch eines Arztes, der ein Konzept zum Abnehmen entwickelt hat: Gesund. Essen. Schlank Sein. – Im Zentrum stehen das „richtige“ und lustvolle Essen sowie dessen Zubereitung, vor dem Hintergrund einer recht umfassenden Auslegeordnung der physiologischen Zusammenhänge rund um die Nahrungsaufnahme und den Energieverbrauch. Unter dem Stichwort „Motivation“ wird auch die Frage erörtert, wie es wohl kommen könne, dass noch nie das Wissen um die Theorien vom Abnehmen so gross gewesen sei… und dass es dennoch immer mehr übergewichtige Menschen gebe.
Eine der Antworten heisst: Akrasia. – Es wird (u.a.) aus dem Lustprinzip heraus anders gehandelt – und gegessen – als das Wissen es eigentlich bestimmen müsste… Nun gelte es, sagt der Autor, eine „kopernikanische Wende“ zu vollziehen, indem man die Befriedigung durch einen kurzzeitigen Genuss dauerhaft aufgebe zu Gunsten eines höheren Wertes, der da heisst „Befriedigung durch Wunschgewicht“. Dadurch müsste es gelingen, auf spontane Genüsse zu verzichten, um eines dauerhaften Fernziels willen…
Das kommt mir etwas unzeitgemäss vor: Wir leben in einem hedonistischen Zeitalter, sind auf Instant-Lusterfüllung programmiert. Die Zeiten, da wir klaglos im diesseitigen Jammertal litten, um eines fernen Paradieses und seiner künftigen Segnungen willen, sind längst vorbei. Natürlich würde uns die Gewichtsabnahme schon im hiesigen, irdischen Dasein fühlbare Erleichterung und Wohlbefinden bringen… Warum aber verhalten wir uns dann immer wieder akratisch? Warum nehmen wir das Dessert, obwohl wir uns vorgenommen haben, diesmal darauf zu verzichten? Warum zelebrieren wir so oft „das letzte Mal“… obwohl wir genau wissen, dass es dabei nicht bleiben wird?
Ein Unternehmensberater sagte einmal in einem Workshop sinngemäss: Jeder Zustand, auch wenn er uns belastet und Mühe bereitet, hat irgendwo sein Gutes, bietet uns Vorteile… sonst würden wir aktiv daran arbeiten, ihn zu überwinden und zu verbessern. Aber solange die „Vorteile“ uns wichtiger sind, nehmen wir die „Nachteile“ im Kauf. Und so lange verändern wir unsere Situation nicht. Jedenfalls nicht von uns aus. Diese Bilanz aus Vor- und Nachteilen müsste man sich bewusst machen können, um dem akratischen Handeln vorzubeugen.