25/5  Fatorexie

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 18:21

Ich habe mich daran gewöhnt, dass ich immer etwas mehr Raum brauche als andere. Ich weiss, dass ich XXXXL-Grösse benötige, wenn ich neue Unterhosen kaufe. Und ich fühle mein Gewicht, wenn ich mich wieder mal eine Treppe hoch schleppe, mit aller Erdenschwere. Das führt dazu, dass ich gelegentlich meinen Zustand „vergesse“. Ich weiss zwar, dass ich übergewichtig bin, aber dass ich soooo dick wäre, das ist mir vielfach nicht präsent. Die Erkenntnis holt mich meistens dann wieder ein, wenn ich in einem Hotelzimmer auf dem Bettrand sitze und vis-à-vis an der Wand ist ein grosser Spiegel befestigt… oder wenn ich auswärts auf der Toilette bin und mich von der Seite in einem Badezimmer-Spiegel sehen kann. Dann realisiere ich, wie mein sonst in die Hose hängender Leib sich in die Breite ausbeult, dicke Speckfalten wirft und ein kolossales Bild abgibt, von dem ich mich zunächst spontan distanziere: Nein, das kann nicht sein, bin ich tatsächlich so dick geworden?

Immerhin, ich realisiere es. Aber die Ausgangslage ist in dieser Gewichtsklasse auch eindeutig und unmissverständlich. Schwieriger ist es da für jene Leute, die partout nicht wahrhaben wollen, dass sie zu schwer sind. Die in den Spiegel schauen können so oft und wo immer sie wollen – und doch stets nur einen schlanken, hübschen Menschen erkennen, obwohl sie klinisch gesehen längst im Adipositas-Bereich sind. – Es ist ein ähnliches Phänomen wie man es bei den untergewichtigen Anorektikern feststellt: sie sind spindeldürr und bestehen nur aus Haut und Knochen, aber sie behaupten steif und fest, sie seien zu dick und müssten abnehmen, um jeden Preis.

Leute, die ihr Übergewicht verdrängen und es nicht sehen wollen, haben neuerdings einen Namen: ihr Verhalten heisst Fatorexie. Das Phänomen ist offenbar bekannt und gar nicht so selten. Im unteren Bereich des leichten Übergewichts mag es sogar noch angehen, da bewahrt es die Betroffenen davor, in einen Schlankheitswahn zu verfallen und sich auf Teufel komm raus auf schlank zu trimmen. Heikler ist es bei schwerer Adipositas und vor allem in jungen Jahren, dann, wenn man von seinem Lebensstil her noch etwas zur leichten Veränderung tun könnte, wenn nicht die Gewohnheiten schon so eingebrannt sind, dass man das Steuerrad nicht mehr herumreissen kann.

Das Gefühl, gar nicht dick zu sein, ist also ambivalent. Es kann zu einem beruhigenden Selbstwertgefühl beitragen, kann von Stress befreien und im übertragenen Sinn entlasten. Aber es kann auch dazu beitragen, dass man gesundheitliche Symptome und Signale verdrängt, nicht erkennnt und auch nicht behandelt, bis es zu spät ist. Und das ist das Fatale an der Sache.