1/8  Zeichen für Dicke?

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 14:59

MAGAZIN-Kolumnistin Michèle Roten hat in der gestrigen Tagi-Beilage die Frage erörtert, weshalb sich die Angehörigen bestimmter „Gruppen“ untereinander mit speziellen Zeichen oder Formeln grüssen. Ein Kunde, der sich wie sie am Zigaretten-Automat bedient hatte, habe sich verabschiedet mit den Worten Happy Smoking.

Da fiel ihr ein, dass Fischer sich Petri Heil! zurufen, dass Pfadfinder, Kegler und Bauern spezielle Grüsse kennen und dass sogar Motorradfahrer sich diskrete Fingerzeichen zukommen lassen, wenn sie sich unterwegs kreuzen… von den Tram-Kondukteuren kennt man das ja schon lange und auch die Lastwagenfahrer schaffen sich Gruppen-Identität, indem sie ihre Namensschilder hinter die Windschutzscheiben montieren. Warum tun das nicht auch andere Gruppen, fragt sich Roten, zum Beispiel die Fetten?

Zuerst dachte ich, das sei eine bescheuerte Frage. Was sollen wir Dicken uns noch öffentlich zu erkennen geben? Uns sieht man es ja eh an, dass wir zu viel Gewicht auf die Waage bringen? Wenn sich zwei Dicke begegnen, kommen sie nicht darum herum, sich gegenseitig wahrzunehmen. Vielleicht muss sogar der eine dem andern Platz machen, etwa im Supermarkt zwischen den Regaln, wo sie Mühe haben zu kreuzen? – Aber dann dachte ich, so abwegig sei der Gedanke am Ende gar nicht. Vielleicht wäre ein kleines Zeichen der Solidarität sogar hilfreich… und wenn es nur ein Lächeln wäre. Ein freundlicher Blick, der ausdrückt, dass auch mir die Problematik vertraut ist, dass auch ich weiss, wie man sich in einem viel zu breiten Körper fühlt…

Es muss keine Wort-Botschaft sein. Nicht: Fett Ahoi! Oder: Dick fürbass! Oder gar: Gut Mampf!, wenn man sich als Übergewichtige an einem Buffet begegnet. Aber vielleicht einfach ein freundliches Kopfnicken, ein anerkennender Blick, eine ganz konventionelle Begrüssung unter Unbekannten, die sich dadurch etwas näher sind als andere, dass sie das gleiche „Problem“, die gleiche Krankheit haben. Und die dies dadurch bezeugen, dass sie sich offen dazu bekennen. Das wäre schon etwas.

Nachtrag:
Beim Gespräch im Familienkreis sind Zweifel aufgetaucht an der Schlüssigkeit meiner Folgerung. Zu Recht wurde geltend gemacht: Im Unterschied zu allen andern „Minderheiten“, die sich durch besondere Zeichen ihrer Solidarität versichern, ist es in der Praxis extrem schwierig, einen Übergewichtigen als solchen zu „bezeichnen“. Begegnen sich zwei Dicke, so findet ein unbewusst-spontaner Abgleich der Wahrnehmung statt: Wer von uns beiden ist schwerer? Und eine klammheimliche Erleichterung, um nicht zu sagen Schadenfreude, wenn sich herausstellt, dass der andere dicker ist als ich. Das ist alles andere als trivial. Gerade bei der Adipositas-Therapie macht man immer wieder die Feststellung, wie heikel und verletzend es sein kann, wenn man Adipöse auf ihr Gewicht anspricht. Und das würde man ja unweigerlich tun, wenn es einen vereinbarten „Code“ wie oben beschrieben wirklich gäbe. – Nein, letztlich muss es bei der Feststellung bleiben, dass dies ein bescheuerter Gedanke der Frau Roten war und ist… – Oder sehen Sie das anders?