18/2  Am Bahnhof

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 20:02

Wieder eine Sitzung in Bern. Was ich nicht bedacht hatte: Seit dem letzten Mal war der ÖV neu organisiert worden und die Trams haben zum Teil andere Nummern. So sass ich am Bahnhof und wartete geduldig auf einen Fünfer, der einfach nicht kommen wollte. Innerhalb von zehn Minuten sprachen mich drei Männer mittleren Alters in reichlich abgetragener Kleidung an und fragten sinngemäss:

Hätteted der mer nid öppis Münz zum ässe?

Nun wollten wir nicht pingelig sein und die Leute darüber aufklären, dass man Geld ja gar nicht essen könne… aber die Häufung der Anfragen in so kurzer Zeit gab mir doch zu denken. Und alle brauchten das Geld für Esswaren, sagten sie. Früher hatte ich mich noch auf Dispute eingelassen, war mitgegangen zum Bratwurststand, um sicherzustellen, dass sich meine Batzen nicht unerwegs in Drogengeld verwandelten…

Überhaupt sind die Ansprüche gestiegen. Früher wurde man direkt gefragt: Hesch mer e Schtutz? Heute reicht diese Münze wohl nicht mehr aus. Der letzte, der mich heute in dieser Sache ansprach, hatte eine glimmende Zigarette in der Hand. Ok, dachte ich, wenns dafür reicht, wird es mit dem Hunger wohl nicht so schlimm sein… Auch wenn ich objektiv durchaus einige Geldstücke in meinem Portemonnaie gehabt habe, auf die ich problemlos hätte verzichten können, war subjektiv heute klar nicht mein wohltätiger Tag. Ich tat, was all die anderen, die mit mir auf das Tram warteten, taten: ich schüttelte den Kopf, hob die Schultern, schaute weg.

Nach einiger Zeit realisierte ich: das Tram mit der Nummer 5 trug jetzt die Nummer 6 und war das „blaue Bähnli“, das von Muri kam und in den Westen fuhr. Ich kam noch rechtzeitig zur Sitzung.