4/9  Unspunnen

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 22:17

Die heutige Berichterstattung über den Unspunnen-Schwinget und das damit verbundene Steinstossen hat mich zu vergleichendem Denken angeregt. Es sind extrem kräftige Männer aus dem Berner Oberland, die den ungeschlachten Stein packen, hochwuchten, über ihren Kopf empor stemmen, einige Schritte laufen, auf die feingerechte Sandpiste zu, bis zum Holzbalken, der das Ende des Anlaufs markiert, dort stossen sie den Stein mit aller Kraft und er fliegt etwas über drei Meter weit in den Sand, wo er einen Eindruck hinterlässt und dann liegen bleibt.

Der Unspunnenstein wiegt amtlich verbriefte 83,5 Kilogramm. Der heurige Sieger des Steinstossens keucht und schnaubt, der Wurf hat ihn geschafft, erschöpft holt er Atem, ehe er in die Fernsehkamera sprechen kann. – Als ich 19 Jahre alt war und mich für den Schweizer Militärdienst stellen musste, wog ich 76 Kilo, so steht es in meinem Dienstbüchlein. Heute zeigt meine Waage am Morgen 163 Kilo an. Ich bin 87 Kilo schwerer als vor 20 Jahren. Die schleppe ich jeden Tag mit mir herum. Sieben Pfund mehr als der Unspunnenstein.

Wenn ich das so bedenke, bin ich eigentlich ein regelrechter Berner-Oberländer-Athlet: wenn ich am Morgen aufstehe, schultere ich den Unspunnenstein und trage ihn zuerst ins Bad, stelle ihn unter die Dusche, schleppe ihn dann in die Küche, wo ich ihn wenigstens beim Essen wieder abstellen kann. Muss ich aber zum Kühlschrank, dann ergreife ich ihn wieder, hebe ihn auf und trage ihn mit mir. Gehe ich aus dem Haus, muss ich ihn die Treppe hinunterschleppen. Bei jedem Tritt schlägt mir sein Gewicht in die Kniekehlen, mich wundert, dass die Füsse den Dienst noch nicht versagt haben.

Zum Glück ist der Weg ins Büro relativ kurz. Nch einigen Schritten halte ich inne, stütze mich am Geländer ab und hole tief Luft, bis es wieder weitergeht. Muss ich auf den Zug, nehme ich das Velo. Hier kann ich den Stein wieder auf den Gepäckträger packen bis zum Bahnhof. Im Büro vergesse ich ihn, denn ich sitze bequem in meinem Sessel, lasse mich auf den fünf Rollfüssen fast lautlos durch den Raum gleiten. Schwer wird es erst wieder, wenn ich den Stein mit aufs WC nehmen muss, oder ihn hochschleppen in den oberen Stock, in die kleine Küche zum Mittagessen oder ins Sitzungszimmer. Liege ich dann am Abend im Bett, spüre ich sein Gewicht kaum noch. Hier herrscht behagliche Schwerelosigkeit der Horizontalen… wenigstens so lange, bis ich nachts aufs WC und am Morgen wieder aufstehen muss.

Der Unspunnenstein ist ein Schweizer Kulturgut, das zahlreiche Fährnisse und Abenteuer unbeschadet überstanden hat. Mein persönliches Zusatzgewicht hat diesen geschützten Status nicht. Ab und zu gelingt es mir, etwas davon abzupickeln… dann wird die Sache vorübergehend leichter. Aber ich kann nachfühlen, was die Steinewerfer zu stemmen haben.