28/12  Rufmord

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 21:48

In der Presse wurde in den letzten Tagen ein Justizfall aufgerollt. Ein Vater hatte während Jahren sein Kind  und dessen Freundin missbraucht. Nach seiner Verurteilung entzog er sich der Haftstrafe durch Flucht ins Ausland, wo er heute unbehelligt lebt und erst noch eine IV-Rente bezieht. Verständlicherweise kocht der Volkszorn, auch wenn er nicht mit dicken Schlagzeilen angeheizt würde, und Politiker fordern den sofortigen Renten-Entzug.

Der Fall macht betroffen. Hier ist mehr als etwas falsch gelaufen, auch wenn ein Entscheid des Bundesgerichts die Ausrichtung der Rente als rechtens erklärt hat. Was mich aber zusätzlich beschäftigt ist das Faktum, dass der flüchtige Verurteilte in einigen Medien konsequent als „stark übergewichtig“ bezeichnet wird. Korrekterweise muss anerkannt werden, dass der Mann offenbar an einer Stoffwechselkrankheit leidet, die seinen ursprünglichen IV-Anspruch begründete und dass er infolge seines Gewichts vom Land, in dem er lebt, nicht ausgeliefert werden konnte oder kann. Das ist eine sachliche Information, die zur Kenntnis zu nehmen ist. Der Mann hat eine Straftat begangen, wurde vom Gericht für schuldig befunden und verurteilt – und hat demzufolge seine Strafe zu verbüssen.

Mildernde Umstände dank Übergewicht? Das erinnert an entsprechend begründete Gnadengesuche bei Todesurteilen in Amerika. So war es aber wohl nicht gemeint in der Berichterstattung. Vielmehr ging es der Redaktion darum, wieder mal einen Dicken an den Pranger zu stellen: nicht nur faul und verfressen sind sie, auch Kinderschänder und IV-Betrüger sind stark übergewichtig! – Ich kann den Journalisten allenfalls Gedankenlosigkeit zugute halten, gepaart mit Dummheit. Auch wenn die Fakten sachlich zutreffen, so hat ihre explizit wiederholte Darstellung zumindest verallgemeinernden Charakter und eine diffamierende Nebenwirkung für alle, die sich dadurch betroffen fühlen. Und das muss nicht sein, das darf nicht sein.