28/10  Schlaf des Gerechten

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 16:08

Die Tatsache ist unbestritten. Ausreichender Schlaf wäre eine der besten Voraussetzung für die Gewichtskontrolle. Doch damit ist es derzeit bei uns nicht so gut bestellt. Wir wohnen im siebten Stock unmittelbar neben dem Bahnhof Oerlikon. Dieser wird noch bis 2016 umgebaut. Es muss eine der grösseren SBB-Baustellen sein, denn nicht nur werden alle acht Geleise neu verlegt, die alten Erweiterungsbauten zum historischen Bahnhofsgebäude abgerissen, die Perron-Überdachungen abgebrochen, eine breite Unterführung gegraben, eine neue Brücke gesetzt… und dies alles bei vollem Betrieb.

Das heisst: „voll“ kann man ihn nur in Bezug auf den Fahrplan nennen, denn alles andere müssen die Bahnkunden auslöffeln. Es ist ein täglich wechselnder Hindernis- und Orientierungslauf auf der Suche nach Zügen, die stets irgendwo anders halten, zu denen man nur noch auf Umwegen gelangen kann, die mit kryptischen Signaltafeln angezeigt werden… Man macht es dem Pendler und der Pendlerin nicht leicht.

Von oben aus dem siebten Stock sieht das ja putzig aus, wie eine belebte Modellbahn-Anlage mit den Ameisenströmen der Reisenden und dem tüchtigen Umbau-Personal: winzige Männlein in knallorangen Overalls, die über die ganze Baustelle verstreut sind und wie an unsichtbaren Fäden laufen, um irgend einen geheimnisvollen Masterplan abzuarbeiten.

Mal stehen sie einzeln herum, mal in Gruppen, dann bauen sie einen hölzernen Trennzaun oder bedienen einen der zahllosen Schaufelbagger. Davon hat es welche in allen Grössen und Farben, blaue, gelbe, weisse, und jeder hat eine spezielle Funktion. Der eine hebt eine Grube aus, der andere knackt mit seiner hydraulischen Schere die Betonwände klein, einer ist so schmal, dass er über die alte Velorampe ins Untergeschoss fahren kann, um dort Backsteinmauern einzureissen… Es ist ein scheinbar planloses Gewusele, dessen Resultat aber doch mit klarer Struktur jeden Tag sichtbarer wird. Ein faszinierendes Schauspiel, vom Frühstückstisch aus zu beobachten, etwas, wofür alte Mnner sonst stundenlang am Bretterzaun stehen müssen.

Wenn nur der Lärm nicht wäre! Im Moment sind die Männlein dabei, die Trümmer der abgebrochenen Gebäude zu sortieren nach Stein, Metall und Holz. Die einzelnen Teile werden in verschiedene Container aus Stahl gelegt. Mit der Ladeschaufel werden sie aufgehoben, zum entsprechenden Behälter gekarrt und dort fallen gelassen. Das gibt jedes Mal ein Geräusch als wäre eine mittlere Kartätsche eingeschlagen, dabei erzittert unser Haus bei den schwereren Brocken.

Diese Arbeit ist so geplant, dass sie kurz nach Mitternacht beginnt. Im Abstand von wenigen Minuten knallen die Beton- und Metallbrocken in die Kisten. Der Schall wird vom benachbarten Hotel verstärkt zurückgeworfen und dringt sogar durch dreifach verglaste Fenster… kaum ist man ein wenig eingedämmert – WUMM! – folgt der nächste Schlag und man ist wieder hellwach.

Fernsehen ist eine Notlösung. Man gibt sich ja keine Rechenschaft, was auf gewissen Sendern während der Nacht an Schrott abgenudelt wird… Morgens nach fünf hört das akustische Martyrium auf. Die orangen Männchen wenden sich stilleren Tätigkeiten zu. Du versuchst aus den frühen Stunden noch so viel Schlaf wie möglich zu zapfen… aber es reicht nicht aus, um frisch zu sein.

Gerädert kriecht man ins Büro und wünscht sich für die nächste Nacht ein Wunder in Form des Dornröschen-Effekts: im gleichen Moment, wo du einschläfst, müssten auch alle Männlein auf der Baustelle in einen Tiefschlaf fallen, der bis zum nächsten Morgen anhält. Ich suche nur noch eine passende Hexe.