4/12  Verletzende Offenheit

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 17:01

Es geht um Diskriminierung. Im Gespräch kam die Rede auf einen Fall, der sich beim Arbeitsamt zugetragen hat. Eine Betreuerin sagte zu einer übergewichtigen Arbeitslosen auf Stellensuche: „Egal, wie gut ihre Qualifikationen sein mögen – wenn ein potenzieller Arbeitgeber Sie so sieht, löscht es ihm sowieso ab.“

Eine Aussage, die verletzt und betroffen macht. Fragen aufwirft und Diskussionen auslöst. Wie „offen“ darf man sein, wenn Gefahr besteht, dass die Offenheit verletzt? Wie brutal darf Wahrheit wirken? Denn letztlich geht es ja nur darum, zu formulieren, was Sache ist. Die Beamtin hat eine entsprechende Erfahrung ja wohl nicht zum ersten Mal gemacht. Sie wird aufgrund verschiedener Feedbacks zu dieser Erkenntnis gekommen sein, die sie direkt und ungeschminkt kommuniziert hat.

Nur kann man in diesem Fall wahrscheinlich davon ausgehen, dass der Betroffenen selber dieser Sachverhalt bereits schmerzlich bekannt war. Es geht also wohl weniger um die Tatsache des Verhaltens möglicher Arbeitgeber an sich, als vielmehr darum, wie diese Erfahrung vermittelt wird. Das könnte anteilnehmend und verständnisvoll geschehen, mit entsprechendem Kommentar, dass leider eine solche Reaktion nicht auszuschliessen ist, man sich davon aber nicht entmutigen lassen solle, in der Hoffnung, doch einmal auf einen Kontakt ohne Vorurteile zu treffen.

Oder es kann kaltschnäuzig, schnippisch, mit einem sarkastischen Unterton geschehen, in dem eigene Vorurteile und Überheblichkeit mitschwingen, auf Demütigung und Verletzung angelegt… Das wollen wir niemandem unterstellen, aber es kann auch so wirken, wenn es gar nicht so gemeint war.

Wer ein halbes Leben lang immer wieder Spott und Geringschätzung ertragen musste, legt sich entweder eine dicke Haut zu oder wird verletzlich. Bei Übergewichtigen ist erfahrungsgemäss eher das Zweite der Fall. Es fällt schwer zu abstrahieren, wenn ein Tiefschlag gesessen hat. Anstand und Respekt sind ein Menschenrecht für alle. Wahrheiten, die verletzen können, müssen nicht unterdrückt werden. Auch Verschweigen hilft nicht. Aber es ist eine Frage des „Wie-vermittle-ich-das Unangenehme“, also des Stils und der Mitmenschlichkeit. Man könnte auch Empathie sagen.