17/2 Abnehm-Zwang?
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 15:43 |
Ein Zeitungsartikel bewegt die Gemüter. Er steht heute im Tages-Anzeiger und handelt von einer Patientin mit der (seltenen) Krankheit Morbus Pompe. Vordergründig geht es ums Abnehmen, aber das ist nur ein Begleitfaktor. Die Krankheit schränkt sukzessive die Bewegungsmöglichkeiten des Patienten ein und führt langfristig zum völligen Erliegen der Organe und zum Tod. Die Patientin, um die es geht, sitzt schon im Rollstuhl. Ein Mittel, das ihre Existenz etwas erleichtern würde, kostet bis zu 500’000 Franken im Jahr; die Höhe der Dosierung richtet sich nach dem Körpergewicht, demzufolge auch die Höhe der Kosten. Um diese Kosten etwas zu senken, schlägt die Krankenkasse vor, die Patientin solle abnehmen, von 90 auf 84 Kilogramm. Dies ist aber nach Ansicht des behandelnden Arztes nicht möglich, ohne dass dabei Muskelmasse abgebaut wird, was wiederum in Anbetracht der Krankheit medizinisch kontraproduktiv und lebensgefährlich wäre… Der Vertrauensarzt der Krankenkasse ist gegenteiliger Ansicht. Wenn die Patientin nicht abnehme, müsse sie einen Teil der Kosten selber tragen, verfügt die Kasse.
Die Diskussion ist eröffnet. Geht es hier wieder einmal um eine plumpe Diskriminierung übergewichtiger Patientinnen durch die Krankenkassen? Ist Empörung darüber angesagt? Der Fall ist wohl differenzierter. Die Krankenkassen sind vom Gesetz her verpflichtet, alle Leistungen zu übernehmen, die wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind (wzw)… Während sich die Wirksamkeit evidenzbasiert einigermassen überprüfen lässt, gibt es punkto Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit einen gewissen Interpretationsspielraum. Dazu kommt, dass das Bundesgericht in einem früheren Urteil den finanziellen Wert eines „lebenswerten Jahres“ für einen Patienten auf CHF 100’000 veranschlagt hat. Das Anliegen der Kasse, ihre Aufwendungen im Griff zu halten, ist grundsätzlich nicht verwerflich…
Auf der anderen Seite steht die unterschiedliche Beurteilung der Auswirkungen einer Gewichtsreduktion durch die Mediziner: der Kassenarzt hält sie für unbedenklich, der behandelnde Spezialist für lebensbedrohlich… In einer solchen Situation müsste wohl die Einschätzung des Spezialisten Vorrang haben. Dem ist jedoch – leider – mehrheitlich nicht so, das lehrt eine leidvolle Erfahrung aus zahlreichen kontroversen Einschätzungen.
Kann und soll also eine Krankenkasse „einfach so“ eine Gewichtsreduktion anordnen? Nein, sagen wir mit Nachdruck. Es gibt eine einzige Ausnahme: wenn ein Patient vor einer Magen-OP steht und diese erst ohne Komplikationen durchgeführt werden kann, nachdem er einen Teil seines Gewichts reduziert hat, dann ist eine entsprechende Auflage sinnvoll.
In den Leser-Reaktionen auf den Artikel ist erfreulich viel Verständnis für die besondere Situation der Patientin in diesem Fall zu erfahren. Natürlich fehlen auch die Hardcore-Aussagen jener Zeitgenossen nicht, die knallhart für „Selbstverantwortung“ plädieren und nichts von der Solidarität im Krankheitsfall bei Übergewicht halten – aber damit müssen wir leben. Es bleibt abzuwarten, wie dieser Kompetenz-Streit ausgeht.