17/1  Versuchung

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 18:04

Eigentlich sollte ich ja gefeit sein. Seit einem guten halben Jahr beschützt mich die wöchentliche Akupunktur-Session vor jeder Art von unbotmässigem Hungergefühl, kulinarischen Gelüsten zur Unzeit und allem, was mich vom korrekten Pfad der Ernährungs-Tugend abbringen könnte. Aber heute sah ich mich ernsthafter Gefährdung ausgesetzt – und bin erlegen.

Das kam so: am Morgen fuhr ich per Bahn nach Bern. Dort fand eine Film-Matinee statt, zum Gedenken an die Gründung eines „Filmclubs“, die vor fast 50 Jahren stattgefunden hatte und die von einer Gruppe junger, aufmüpfiger Filmjournalisten initiiert wurde. Ich war einer davon. Praktisch die ganze Gründercrew hatte sich zur Visionierung eines Films von früher eingefunden und wir haben in Erinnerungen geschwelgt an eine Zeit, in der Manches noch einfacher und trotzdem aufregend war…

Auf dem Heimweg im Bistro eine kleine Zwischenverpflegung, diätkonform, Fleisch und Salat, sonst nichts. Ich entschied mich für ein Stück Lamm-Entrecôte, klein aber fein. Bis ich sah, was am Nachbarstisch aufgetragen wurde: eine zierliche Dame erhielt eine mächtige Portion Spare Ribs vorgesetzt, von der sie gerade mal 4 Knöchlein abnagen mochte, um gute zwei Drittel der prachtvoll saftigen Fleischpakete wieder zurückgehen zu lassen! Ich verwünschte meinen Entscheid zu Gunstes des Lamms und ärgerte mich, dass ich die Rippchen auf der Speisekarte nicht gesehen  hatte…

Auf der ganzen Heimfahrt im Zug verfolgte mich dieses Bild der ungenutzten Fleischmenge, die da wieder in die Küche getragen wurde und ich malte mir aus, wie ich den Schmaus genossen hätte, wäre er für mich bestimmt gewesen. So deutlich hatte ich die Erinnerung an den Anblick vor Augen, dass ich auch den Geruch und den Geschmack wahrzunehmen vermeinte, und als ich im Bahnhof Zürich an einem Hotdog-Stand vorbei kam, konnte ich nicht anders: Ich erkundigte mich, ob man auch eine Wurst ohne das Brötchen kaufen könnte, solo, nature, gewissermassen… Ja, meinte der Verkaufer, aber er müsse mir trotzdem den vollen Preis berechnen. Das bewahrte mich zum Glück vor dem Fehltritt.

Als dann allerdings die Strassenbahn an der heimischen Endstation direkt vor dem neu eröffneten Hähnchen-TakeAway anhielt, was es definitiv um mich geschehen. Die Versuchung hatte den Nadel-Effekt nieder gerungen! Mein Essens-Sensorium ist noch nicht abgestorben. Aber es darf auf keinen Fall zur Gewohnheit werden.