20/4  Der Sekunden-Bruchteil

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 17:13

In den 70er-Jahren habe ich versucht, mit der Atkins-Diät abzunehmen. Alex Grob, erfolgreicher Musikproduzent und Dienstkollege, hat sich einen WK lang mit mir in das Abenteuer gestürzt. Die Diät passte uns: kein Brot, keine Teigwaren, kein Gemüse, keine Früchte – dafür Fleisch in jeder Form und Menge, gebratener Speck, Spiegeleier, fetter Käse… Der Wirt im Landgasthof Bären zu Kirchberg hatte Freude an uns. Er war, wenn ich mich recht erinnere, selber Metzger, jedenfalls war er uns Offizieren gegenüber, die wir in seinem Etablissement auch Quartier bezogen hatten, sehr grosszügig, was die Verköstigung mit fleischlichen Leckereien betraf.

Aber wir wussten: Atkins ist eigentlich des Teufels, ungesund bis zum Gehtnichtmehr, jeder vernünftige Arzt riet davon ab, und wenn schon, hiess es in den einschlägigen Informationen, solle diese Diät nur unter ärztlicher Aufsicht durchgeführt werden. Innerhalb weniger Monate hatte ich mit der Atkins-Methode fast 20 Kilo abgenommen. Eine der Nebenwirkungen war allerdings, dass ich relativ streng zu riechen begann und das Gefühl nicht los wurde, das Fett, das sich von mir verabschiedete, trete durch die Poren meiner Haut aus…

Heute, ein halbes Jahrhundert später, lese ich mit Erstaunen, dass der Arzt Dr. Robert Atkins im Rückblick ein Pionier der Ernährungslehre gewesen ist, dass er als einer der wenigen schon früh vor dem „Anti-Fett-Wahn“ gewarnt hatte, der sich in Amerika als Königs-Strategie gegen Adipositas und die damit verbundenen Erkrankungen wie Herzinfarkt und Diabetes etabliert hatte. Er erkannte den übermässigen Zuckerkonsum als die weitaus grössere Gefahr für die Gesundheit. Aber die wissenschaftliche Anti-Fett-Lobby setzte alles daran, Atkins lächerlich zu machen, ihn als Spinner und Volksverführer zu diskreditieren, seinem Ernährungskonzept (auf ketogener Basis) haftet darum noch heute der Nimbus von unheilvoller Quacksalberei an…

Zur gleichen Zeit, als Atkins in Amerika seine Diät lancierte, publizierte der englische Ernährungswissenschafter Prof. John Yudkin ein Buch über die gesundheitlichen Gefahren des Zuckerkonsums mit dem Titel Pure, White & Deadly, in dem er all das schon formulierte, was sich heute an Erkenntnis langsam wieder ins Bewusstsein bringt: der eigentliche Dickmacher in unserer Nahrung ist nicht das Fett und ungesund ist nicht das Cholesterin, das wir essen, wirklich verhängnisvoll ist der übermässige Konsum von raffinierten Zuckerarten, der seit dem Kampf gegen eine zu fettreiche Ernährung tsunamimässig angschwollen ist.

Wie kam es überhaupt dazu? Hier gibt der lesenswerte Bericht von Ian Leslie in The Guardian Aufschluss: 1955 hatte der amerikanischen Präsident Eisenhower einen Herzinfarkt erlitten. Anstatt diese Erkrankung zu verschweigen, wie in der Politik oft üblich, machte er den Vorfall bekannt und liess die Hintergründe erforschen. Dabei fanden die Wissenschafter heraus, dass eine zu fett- und cholesterin-reiche Ernährung zum Herzproblem geführt habe. In der Folge entwickelte sich eine ganze Industrie von fettarmen Lebensmitteln, bei denen aber der fehlende Geschmack durch die Zugabe von Zucker ersetzt wurde.

Spätere Untersuchungen zeigten, dass die Kurve des weltweiten, explosionsartigen Anstiegs der Adipositas-Erkrankungen parallel verläuft mit dem Aufkommen der „fettarmen“ Light-Produkte und dem erhöhten Zuckerverbrauch. Entsprechende Forschungsresultate wurden jedoch systematisch ignoriert, die führenden Wissenschafter hielten unverrückt an ihrer „NO-FAT-Theorie“ fest und liessen keine andere Meinung aufkommen. John Yudkin und die, die seinen Standpunkt teilten, wurden wissenschaftlich boykottiert und isoliert.

Heute wird das Risiko des unkontrollierten Zuckerkonsums endlich ernst genommen. Über die Thematik einer Zuckersteuer wird in vielen Ländern ernsthaft diskutiert. Aber nach wie vor hält sich der Mythos vom gesundheitsschädlichen Fett im Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung. Ein Blick in die Evolutionsgeschichte zeigt: seit Anbeginn und während Hunderttausenden von Jahren lebten unsere Vorfahren von Nahrungsfasern, Eiweiss und Fett bzw. von Pflanzen, Früchten und erlegten Tieren. Kohlenhydrate wie wir sie heute zu uns nehmen, kennt der Mensch erst seit 10’000 Jahren, als der organisierte Landbau begann. Raffinierten Zucker dagegen gibt es erst seit 300 Jahren, also seit einem menschheitsgeschichtlichen Bruchteil einer Sekunde!