6/7 Hilfreiche Erkenntnis
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 16:18 |
Heute in der Akupunktur. Der Schritt auf die Waage ist immer ein Abenteuer: wird sie mich verraten oder hat sie gerade einen gnädigen Moment? Zuweilen scheint mir, die Gnade der Waage sei vom Wetter abhängig. Heute jedenfalls, bei strahlendem Sonnenschein, zeigte sie sich von grausam unerbittlicher Direktheit: anderthalb Kilo mehr als letzte Woche!
Was war geschehen? Der erste Gedanke: ich hatte gestern Abend mit grossem Behagen eine Suppe verspeist, ein „Höngger Weinsüppchen“, äusserst schmackhaft gewürzt aber wohl etwas gut gesalzen. Jedenfalls könnte dies der Grund sein, weshalb mein Körper in dieser Grössenordnung Wasser eingelagert hat…
Im Gespräch mit dem Arzt kam ich dann allerdings zu einer erweiterten Einsicht: Als ich vor zwei Jahren, am Anfang meiner Therapie, noch unter den negativen Auswirkungen meines Gewichts litt, erfuhr ich jedes Kilo, das sich in Nichts auflöste, als Befreiung. Der stetige und fortschreitende Erfolg hatte eine enthusiasmierende Wirkung und motivierte mich, peinlich genau die Ernährungsvorschriften einzuhalten und millimeterpräzis darauf zu achten, dass ich nicht vom rechten Pfad abwich. Ich erinnere mich, wie ich peinlich jedes Gramm von Lebensmitteln vermied, die nicht auf der „erlaubten“ Liste standen…
Nun, da einmal 80 Kilo weg waren, überbietet sich meine Umwelt in Komplimenten. Von scherzhaften Begrüssungen („Man sieht dich ja kaum noch, pass auf, dass du nicht ganz verschwindest!“) bis zu begeisterten Komplimenten („Lääk, siehst du gut aus!“) erfahre ich direktes und indirektes Lob für meine Konsequenz. Und wenn ich beim Vorübergehen im Schaufenster mein Spiegelbild von der Seite sehe, muss ich mir in Erinnerung rufen, dass diese schlanke, elegante Figur, die da federnden Schritts einhergeht, einmal mein plumpes Ich war, das sich unter Schmerzen vorwärts geschleppt hatte und den Blick in etwas Spiegelndes tunlichst vermied…
Und ich wurde gewahr, dass dieser positive Zuspruch dummerweise nicht motivierend war, mich auf Kurs zu halten, im Gegenteil: je freundlicher das Echo, desto grösser die Versuchung, mir selber zuzuraunen: Wenn das so ist, dann liegt ja wohl mal eine kleine Ausnahme drin… davon wird die Welt nicht untergehen, wegen dieser einen Frucht oder diesen Löffelchen Glace, dem kleinen Stück Käse oder dieser Extra-Portion Chicken-Wings…
Fazit: Ich muss einen Schritt zurücktreten, darf mich durch lobenden Zuspruch nicht beirren lassen, muss mir vor Augen halten, dass ich noch nicht am Ziel bin. So muss es Marathon-Läufern gehen, auf den letzten Kilometern. Der Erfolg ist erst dann errungen, wenn sie heil zurückgelegt sind.
Genauso ist es; passiert mir nach ebenfalls starkem Gewichtsverlust auch. Vor allem, weil der dritte typischer Satz gern lautet: «Jetzt reicht es aber auch!» Wenn man dann antwortet: «Nein, ich muss noch 15 kg» und damit nur Kopfschütteln erntet, schadet das irgendwann durchaus der Motivation.
Der Vergleich mit dem Marathon ist zum Teil sicher zutreffend, aber andererseits ist beim Marathon auch jedem das Ziel klar, und niemand würde einem bei Km 35 zurufen: «Tolle Leistung, aber nun kannst Du auch aufhören.»