6/8  Die Sucht suchen

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 15:40

Ein bemerkenswerter Gerichtsentscheid. Lange war „das Vouch“ der Überzeugung, dass Menschen, die einer „Sucht“ verfallen sind und nicht mehr davon loskommen, an ihrem Zustand „selber schuld“ seien und deshalb keinen Anspruch auf Invaliden-Unterstützung haben können, wenn sie nicht (mehr) in der Lage sind, einem Erwerb nachzugehen.

Nun hat das Bundesgericht entschieden, dass dem nicht (mehr) so sei. Aufgrund medizinischer Erkenntnisse wurde festgelegt, dass Suchtbetroffene einen Krankenstatus haben, der zum IV-Bezug berechtigen kann, wenn die entsprechenden Abklärungen positiv sind. Es ist also nicht so, dass sich nun eine verschwenderische Giesskanne über all die Junkies ausschütten würde, die man für „bloss zu faul  zum Arbeiten“ hält, wie die parteipolitisch gestählten Sozialstaat-Abbauer sofort jaulen. Es muss jeder Fall sorgfältig abgeklärt und geprüft werden, ehe eine Unterstützung fliesst.

Aber das Urteil hat noch einen anderen Aspekt: Adipositas wird in der deutschen Umgangssprache als „Fettsucht“ bezeichnet, dies wohl, weil ein „süchtiges“ Essverhalten (wodurch auch immer bedingt) zum Zustand einer physischen Verfettung geführt hat. Und auch hier ist ein Grossteil der Öffentlichkeit noch immer überzeugt, dass die Betroffenen jederzeit ihr Verhalten ändern könnten und es deshalb in ihrer eigenen Verantwortung liege, ihr Gewicht zu reduzieren und ihr Fett zu verlieren.

Seit Jahren ist die Adipositas von der Weltgesundheitsorganisation als „Krankheit“ definiert, was aber noch nicht in allen Ländern offiziell anerkannt und entsprechend respektiert wird. Nach wie vor ist auch in der Medizin die Auffassung vorherrschend, dass Übergewicht und Adipositas zwar einen „Risikofaktor“ für bestimmte Erkrankungen darstellen, aber die Therapie ist in vielen Fällen auf die Behandlung dieser Begleiterkrankungen ausgerichtet. Zwar haben wir eine sehr gute Regelung mit den Krankenkassen, was die chirurgischen, bariatrischen Operationen betrifft, auch werden von den meisten Kassen die Kosten für Physiotherapie und Ernährungsberatung oder psychologische Betreuung übernommen, wenn gewisse Kriterien erfüllt sind, aber bei der Invaliden-Entschädigung gibt es noch keine verbindliche und vor allem einheitliche Regelung. Zahlreich sind die Fälle, die in den verschiedenen Kantonen und Landesteilen nach unterschiedlichen Kriterien behandelt werden… – Vielleicht müsste auch mal eine Adipositas-Patientin einen Musterprozess vor Bundesgericht durchstehen.