11/1  Armes Velo

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 14:07

Das ist mir schon länger nicht mehr passiert. Als ich heute Vormittag auf dem Weg ins Büro beim kleinen Trafik meinen Lesestoff besorgt hatte, wieder auf die Strasse trat und mich daran machte, aufs Fahrrad zu steigen, kam mir ein dürres Männchen entgegen, das mit seinen Armen gestikulierte und dazu rief: „Armes Velo..!“

Was er damit meine, fragte ich ihn. Er guckte mich über den Rand seiner Covid-Maske hinweg an und machte mit beiden Händen eine ausladende Bewegung. Mit leicht südländischem Akzent sagte er: „Du so gross und schwer…“ – Da wusste ich, was sein Problem war. Du hast gut reden, sagte ich, du schmaler Wurf. Schau zu, dass du nicht verhungerst! Mit meinem Fahrrad hatte ich kein Mitleid. Es ist ein Flyer mit extrastarker Rahmenkonstruktion, den ich vor zehn Jahren erstanden hatte, als ich noch 180 Kilo wog.

Wie sind solche Feedbacks zu bewerten? Ist es Dicken-Diskrimination? Oder einfach eine spontane, leicht naive Bekundung eines Eindrucks? Ich konnte es dem Männchen nicht übelnehmen. Es trifft zu, dass ich in der letzten Zeit über die Feiertage wieder etwas zugelegt habe… aber ein wesentlicher Anteil meiner offenbar opulenten Erscheinung war meines Erachtens der dicken Vermummung geschuldet, in die ich mich auf Empfehlung unserer Medien gehüllt hatte, um mich gegen die Kälte zu wappnen, die akut über uns hereingebrochen ist.

Ich schwang mich auf den Sattel und rollte davon, nicht ohne dem mageren Warner nochmals zuzuwinken. Nebenwirkungen des übergewichtigen Alltags? Man muss damit leben. Sich ärgern bringt nichts.