4/9 Auf allen Vieren
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 22:46 |
Es ist ein besonderes Gefühl, sich mit den Stöcken nun im Alltag fortzubewegen. Drei Monate solle man sie verwenden, lautet die Empfehlung, und ich habe jetzt mal zwei Wochen geübt, „draussen“. Der politisch korrekte Ausdruck, um nicht „Krücken“ zu sagen, ist wohl „Gehhilfen“. Und man kommt sich mit diesen Dingern irgendwie unbeholfen vor. Will man eine Türe öffnen, muss man eine Hand wenigstens halb frei haben. Drückt man die Türfalle nach unten und hat den Griff der Gehhilfe noch in den Fingern, so blockiert das den Türgriff… stellt man beim Kiosk die Stöcke an, um die Zeitung zu bezahlen, so rutschen sie bestimmt zur Seite weg und scheppern über den Boden…
Interessant ist das Verhalten der Mitpassagiere beim Zugfahren. Das fängt beim Warten auf dem Perron an. Du denkst, wer an Stöcken geht und ein etwas leidvolles Gesicht macht dabei, dem müsste doch jedermann auf der Sitzbank einen Platz anbieten. Aber weit gefehlt. Da hocken die Kids breitbeinig und schlürfen ihr Red Bull, Männer lesen Zeitung und am besten sind die Frauen, die ihre Einkaufstaschen auf der Bank deponieren und davor stehen bleiben, wobei sie emsig ein SMS in ihr Handy tippen. Da kannst du lange daneben stehen, zuerst diskret ein wenig seufzen, einige Schritte hin und her trippeln, dich auf deine Stücke stützen… erst wenn du höflich fragst, ob es den Damen vielleicht etwas ausmachen würde, da sie ja selber nicht absässen… erst dann nicken sie, packen ihre Taschen, entschuldigen sich sogar, und gehen einige Meter zur Seite, weiter SMS-end.
Nun habe ich auch die Behindertensitze im unteren Stock der Intercity-Züge schätzen gelernt: ein Abteil ist mit blauem Kleber besonders gekennzeichnet. Ein Mànnlein mit einem Blindenstock und eines mit einer Gehhilfe, beide in Weiss, und dazu die Aufforderung, man solle diese Plätze bitte freigeben, wenn Behinderte sie benötigen. Ist das Abteil noch leer, setze ich mich gemütlich hin, lege die Stöcke ins Gepäcknetz und bin froh, dass ich einen Platz gefunden habe. Ist das Abteil aber schon belegt und ich stehe wartend davor, dann ist es spannend zu sehen, ob jemand – und wenn, wer – Anstalten macht, für sich einen neuen Sitzplatz zu suchen. Da wird intensiv in der Zeitung gelesen, mit der Nase tief im Papier, als wären sie plötzlich kurzsichtig geworden… Hier sind es meist die jungen Frauen, die ihr Buch zuklappen und fragen, ob man sitzen möchte.
Wie auch immer, der öffentliche Verkehr hat plötzlich eine ganz neue Dimension erhalten. Kommt kein Niederflurtram, so warte ich bis zum nächsten, denn die Tritte sind noch viel zu hoch (vor allem in Bern, wo man bei den alten Trams noch zynisch-neckisch über die Stufen geschrieben hat: „Dies ist ein Trittbrett, kein Stolperbrett!“). Alles dauert mindestens doppelt so lang, treppauf und treppab, der Weg von einer Strassenseite zur andern… die Grün-Phasen an den Ampeln sind kurz geworden und die lieben Autos brausen davon und knapp hinter dir durch, sobald sie wieder dürfen… du verstehst plötzlich den Frust der alten Leute, die sich wie Freiwild vorkommen, wenn sie eine Verkehrsader überqueren müssen… und dabei habe ich jetzt gar nichts über die Offrroader gesagt.
Man erlebt das Verkehrsgeschehen von einer ganz anderen Seite und es hilft emotional nichts, dass man mit dem Verstand genau erfassen kann, was warum passiert… es ist ärgerlich genug, DASS es passiert.