27/1 Arm und dick
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 23:19 |
Kleine Nachlese zum gestrigen – und im Rückblick einzigen *) – Höhepunkt der Nationalen Gesundheitsförderungs-Konferenz. Ein weiteres Referat hat sich am Freitagvormittag mit der Thematik befasst: Gesundes Körpergewicht und soziale Benachteiligung: Neue Ungleichheiten in der Überflussgesellschaft.
Was hier so relativ sachlich-theoretisch klingt, das verschärft und präszisiert, ja lokalisiert eine der Aussagen, die Prof. James gestern schon gemacht hat: Übergewicht ist eine Armeleute-Krankheit. – So paradox es klingen mag, wenn man landläufig die wuchernden Fettpfunde mit „Überfluss“ assoziiert, so spricht die Statistik auch in der Schweiz eine klare Sprache, wie der Zürcher Soziologe Markus Lamprecht einleuchtend darlegte.
Bei Leuten mir geringem Einkommen ist Adipositas auffallend häufiger anzutreffen als bei der Schicht der besser Betuchten… und das ist die pure Umkehrung früherer Verhältnisse. Noch vor hundert Jahren war Dicksein ein Zeichen von Wohlstand, man war „beleibt“, „stattlich“, hatte eine „imposante Postur“, wie sie Würdenträgern, Generälen, Fürsten geziemte.
Heute sind unförmige Körper ein Synonym für Haltlosigkeit, Selbstaufgabe, Genusssucht. Und extrem verkehrt sich der Wahn bei jungen Frauen ins Gegenteil. Die Models, die vom Laufsteg über Frauen- und Modezeitschriften den Trend prägen, weisen im Durchschnitt noch einen BMI von unter 17 auf, sind also nach allen Regeln der medizinischen Kunst magersüchtig… Was auch dazu führt, dass immer mehr Jugendliche mit ihrem Körper unzufrieden sind.
Woher kommt dieses Unterschichten-Phänomen? – „Schlechte“ Fette sind billiger und in grossen Mengen verfügbar; „gute“ Nahrungsmittel, fett- und kalorienbewusst zubereitet, sind teurer, exklusiv. Der schnelle Food aus der Mikrowelle ist günstig und braucht nicht viel Zeit für die Zubereitung; „gesundes“ Kochen mit Frischprodukten ist ein Luxus, den sich immer weniger leisten können. Wer ums Überleben arbeiten muss, hat weder die Musse noch die Zeit, den wohlmeinenden Empfehlungen nachzuleben, die da lauten: Langsam essen, geniessen, die kleinen Bissen bewusst und ausdauernd kauen, bis sie im Mund ihren vollen Geschmack entfalten…
Bisher haben wir oft mitleidig nach USA geblickt und sind uns ja wieder so viel besser vorgekommen. Aber die Statistik lügt nicht. Es hat uns voll erwischt. – Am Ende der Tagung nimmt mich Bertino Somaini, der Direktor der Stiftung „Gesundheitsförderung Schweiz“, zur Seite und sagt zum Abschied: „Sehen Sie, nun sind wir voll bei Ihrem Thema.“ Da hat er Recht, es wurde auch Zeit.
*) PS: Ich tue meinem ehemaligen Radiokollegen, dem Psychologen Peter Schneider, brutal Unrecht: Seine Aufgabe war es, am Ende eines Tagungs-Tages jeweils in satirischer Form eine Bilanz zu ziehen. Und das, das waren dann die anderen, effektiven Höhepunkte, die den Tagungsbesuch zum Erlebnis machten.