29/12 Das Geschenk
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 23:32 |
Eine kleine Weihnachtsgeschichte. Sie geht so: In der Familie X war es Brauch, neben allerlei Nützlichem und altersgerechtem Spielgerät auch immer ewas Leckeres in Form von Süssigkeiten unter den Baum zu legen. Und auch als die Kinder grösser wurden, blieb dieser Brauch erhalten. Und sie freuten sich darauf und darüber.
In diesem Jahr war etwas anders. Alle bekamen ihre Geschenke und ihre Süssigkeiten – bloss eine nicht: Tochter C. Auch für sie hatte es unter dem Baum etwas, das aussah wie eine Tafel Schokolade. Und etwas, das sich anfühlte wie ein kleiner Kuchen aus Marzipan. Erwartungsfroh packte sie aus. Was die Form und das Gewicht von Schokolade hatte, war ein kleines, tafelförmiges Deodorant für den Schrank, um guten Duft zwischen den Kleidern zu verströmen. Und das, was sie für ein kleines Törtchen hielt, entpuppte sich als ein rundes Stück Seife.
Dies war nicht etwa ein verdeckter Hinweis auf mangelnde Körperpflege, sondern eine direkte, unverhüllte und wenig diplomatische Absage an den Konsum von Süssigkeiten, weil Tochter C zuweilen mit ihrem Gewicht zu kämpfen hatte. Nicht dass sie „dick“ oder gar adipös gewesen wäre, im Gegenteil, sie strahlte eine gesunde Natürlichkeit aus, trug gewisse Rundungen selbstbewusst und vertrauenerweckend, entsprach somit – das muss allerdings eingestanden sein – nicht der Idealvorstellung von Switzerlands Next Topmodel, war aber eine Klassefrau, die man sich anders nicht wünschen mochte.
Was sagt wohl der Familienpsychologe zu dieser elterlichen Diskriminierungs-Übung? Lobt er den Versuch, das geliebte Kind vor kalorienreicher Versuchung zu bewahren? Oder tadelt er die verletzende Hintansetzung am Fest der Liebe und der Freude? – Sie jedenfalls hatte sich aufgrund der wohl nicht zufällig gewählten Formen der Päckchen einen anderen Inhalt gewünscht und vorgestellt. Ihre Enttäuschung über den Disziplinierungsversuch per Geschenk war erheblich. Und dürfte auch noch ins kommende Jahr hinein wirken.