21/4 Konsum-Realität
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 23:36 |
Ein Kulturschock quasi vor der Haustür. Am Donnerstag war die Eröffnung der ersten „städtischen“ Aldi-Filiale in der Schweiz, gleich nebenan, in Neu-Oerlikon. Und heute konnte ich nicht umhin, das Angebot wenigstens stichprobenweise zu testen. Die Grundlagen für mein Frühstück interessierten mich: tiefgekühlte Himbeeren und teilentrahmter Joghurt.
Und dann das: Schon der ganze Vorplatz des schönen, neuen Gebäudes am Max-Bill-Platz verströmte einen exotischen Hauch von Basar. Man könnte meinen, eben erst sei das „Tram uf Afrika“ von Franz Hohler vorbei gefahren (obschon dieses übers Wochenende wegen Gleiserneuerungen die fragliche Strecke gar nicht befährt). In Gruppen stehen bunt gekleidete Afrikanerinnen mit Kindern und Tragtaschen, Tragtaschen… Kopftuchfrauen schieben riesige Einkaufswagen (kaum kleiner als diejenigen, in die wir uns an der Expo im Migros-Pavillon zu zweit setzen konnten), hochaufgetürmt beladen mit Grosspackungen von Lebensmitteln… und der Boden ist übersät mit Papiersäcken, Verpackungsmaterial, Plasticflaschen, wie wenn unlängst der Tross der Streetparade durch das Quartier gebraust wäre.
Als würde der Einkauf morgen verboten, schleppen die Familien, Ameisenzügen gleich, ihre Ware aus dem Geschäft zu den am Strassenrand parkierten Autos, und ich frage mich, ob es drinnen überhaupt noch etwas zu erstehen gibt. – Ich schnappe mir einen der Riesentransporter und schiebe ihn durchs Gewühl zwischen den einfachen Regalen durch… Das ist der Unterschied zum Aldi, wie ich ihn aus Deutschland, von Berlin, kenne: Zwar sind die Produkte in ihren Karton-Paletts aufgestapelt, aber sie reihen sich ordentlich auf schlichten, einstöckigen Regalen. Es gibt eine Abteilung für Frischgemüse und einen Sektor mit Milchprodukten, eine lange Flucht sauberer Tiefkühlboxen, an denen sich der Strom der Einkäuferinnen aller Rassen und Klassen vorbeischiebt… Aber ich merke, dass ich mit meinem Test zum Scheitern verurteilt bin.
Joghurt im 200-Gramm-Becher und in allen Geschmacksrichtungen: das lädt zum Konsum ein. Teilentrahmten gibt es nicht, nur den aus Vollmilch, mit 3,5 Gramm Fett. Und TK-Himbeeren kann man auch vergessen, es gibt die gefrorenen Früchte einzig in der „gesüssten“ Version (wobei mir erst jetzt beim Schreiben bewusst wird, dass dies ja nicht automatisch „gezuckert“ bedeuten muss, weil auf dem gleichen Produkt bei der Migros „ungezuckert“ drauf steht). – Also nehme ich ein Nature-Jogurt im 5 dl-Becher, verzichte auf die Beeren, lasse einen dänischen Käse mitgehen und noch einen tiefgekühlten Flammkuchen… und bin am überlangen Rollband bei der Kasse mit meinem Einkauf von knapp zehn Franken ein absoluter Minimalisten-Exot.
Mein Blick streift über die hochbeladenen Wagen vor und hinter mir, beigenweise günstige Esswaren mit – so muss ich annehmen – beachtlicher Kaloriendichte und ohne grosses Fettbewusstsein. Draussen vor dem Geschäft warten die rundlichen Kinder, in deren Mündern und Mägen ein grosser Teil der Einkäufe in den kommenden Tagen verschwinden werden.
Am Morgen sassen wir noch in Bern und diskutierten in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe unter Adipositas-ExpertInnen über präventive und strukturelle Massnaahmen, um die rasante Ausbreitung des Übergewichts auch bei uns etwas in den Griff zu bekommen… und plötzlich wirkt das, was wir besprochen haben, so unwirklich fremd und praxisfern, angesichts der brutalen Konsum-Realität, die sich hier ereignet.