8/5 Ernährung brutal
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 16:07 |
Es war keine leichte Ferien-Lektüre. 3096 Tage – so heisst das autobiografische Buch, in dem Natascha Kampusch die Geschichte ihres acht Jahre dauernden Martyriums im Kellerverlies ihres Entführers beschreibt.
Die Vorstellung, dass es sich hier nicht um eine erfundene Geschichte handelt sondern um erlebte, erlittene Realität, um wirkliche Panik, Ängste, Not, Verzweiflung, um Misshandlungen und unsägliche Schmerzen – und gleichzeitig um eine absurde Form der kindlichen Abhängigkeit und doch Hingabe an eine Person, deren Peinigung als einzige Form von Zuneigung wahrgenommen wurde… diese Vorstellung ist beklemmend und lässt einen auch nach dem Lesen nicht so bald wieder los.
Ein Element dieser wahnwitzigen Leidensgeschichte ist der Ernährungs-Komplex. Vor ihrer Entführung war die zehnjährige Natascha ein pummeliges Mädchen, das bei innerfamiliären Spannungen gern Zuflucht beim Essen suchte und das unter Gleichaltrigen all den leider üblichen Formen der subtilen Diskriminierung ausgesetzt war, demzufolge mit sich selber und ihrem Körper unzufrieden war, an mangelndem Selbstwertgefühl litt.
In der ersten Zeit ihrer Gefangenschaft erfüllte der Entführer ihr den einen oder anderen Wunsch nach Esswaren – im Sinne einer Belohnung für angepasstes Verhalten. Mit der Zeit begann er jedoch – so wie sein Opfer im Heranwachsen zur jungen Frau vermehrte Eigenständigkeit und Bereitschaft zum Widerspruch an den Tag legte – das Essen als Disziplinierungsmassnahme einzusetzen. Er redete ihr ein, sie sei viel zu dick und hässlich, er setzte sie auf eine rigorose Mangelernährung, so dass sie lange Zeit am Rande der physischen Erschöpfung dahin vegetierte und alle Anzeichen einer krassen Anorexie aufzuweisen begann, mit einem BMI von 14,5, was nach der WHO-Skala absolut lebensbedrohlich ist.
Im Rückblick schildert Kampusch ihre Erfahrungen in diesem existenziellen Grenzbereich glasklar und bedrückend, die Symptome und die Halluzinationen, die Wahnvorstellungen von imäginärem Essen, mit denen sie sich über die Hungerperioden hinweg half, bis zum Zustand der totalen Erschöpfung und der Bewusstlosigkeit… – All die Phänomene, die uns aus den Theorie- und Lehrbüchern eigentlich vertraut sind, erstehen hier zur erlebten Wirklichkeit und können verstanden und begriffen werden. Diese Passagen allein machen das Buch, das schon vor einiger Zeit erschienen ist, lesenswert.