20/5  Kassenwahn

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 23:18

Aufwühlende Schlagzeile heute im SonntagsBlick. Dicke sollen mehr bezahlen! Zitiert wird aus einem noch nicht veröffentlichten Text, einem Interview, das die CVP-Nationalrätin Ruth Humbel, beruflich als Direktionsmitglied im Krankenkassenverband santésuisse tätig, für das Magazin der Krankenkasse CSS gegeben hat. Da verwundert es auf den ersten Blick nicht, dass weniger die Sorge um die von der chronischen Krankheit Adipositas betroffenen Menschen durchschimmert, als die Interessenwahrung der Krankenkassen…

Ruth Humbel tritt – unter anderm – dafür ein, dass Übergewichtige, die sich in ärztliche Behandlung begeben müssen, einen höheren Selbstbehalt zahlen sollten. Sie fordert dies indirekt auch für andere „Risiko-Patienten“, vorausgesetzt, diese setzen sich frei- bzw. mutwillig einer höheren Gefährdung aus. Das ist eine heikle Sache. Und es ist zumindest tröstlich, dass alle Promis und Spezialisten, die vom SonntagsBlick „zur Sache“ befragt wurden, einhellig protestieren und sich gegen eine diskriminierende Behandlung übergewichtiger Kassenpatienten wehren.

Daneben vertritt Humbel auch eine Reihe von Positionen, die duchaus auf der Linie der Anti-Adipositas-Strategien liegen, wie sie in den letzten Monaten von der Weltgesundheitsorganisation WHO und der EU erarbeitet worden sind: Regulierung der Werbung für Schleckwaren, die sich an Kinder reichtet, Ampelsytem für eine eindeutige Lebensmittel-Deklaration, Verbesserung der Aufklärung und des Unterrichts in den Schulen, Förderung von Bewegungsangeboten, etc. – Dumm ist nur, dass diese Punkte im Artikel quasi beiläufig mitgenommen werden und vordergründig der Eindruck haften bleibt, die Politikerin vertrete allen Ernstes immer noch die Position aus dem letzten Jahrundert, dass die „Dicken“ an ihrem Dicksein vorwiegend selber Schuld seien.

Umgehend hat sich bei mit TeleZüri gemeldet mit der Bitte um ein Statement, und ich habe es eingeleitet mit dem Vorbehalt, falls Frau Humbel das, was von ihr zitiert wurde, wirklich so gesagt hat, denn die Boulevardpresse lebt ja nun einmal davon, dass sie Aussagen und Sachverhalte zuspitzen muss. – Frau Humbel ist offenbar selbst erschrocken, als sie die Zeitung zu Gesicht bekommen hat, denn sie liess umgehend den kompletten Text ihres Interviews verbreiten und hat auch mir ein Exemplar davon an die SAPS geschickt. – Darin zeigt sich, dass die zitierten Passagen sehr wohl „stimmen“, dass aber anderes, was sie auch gesagt hatte, weggelassen wurde, was natürlich die Gewichtung verändert hat. Zudem wird durch die Fragestellungen des Interviewers eine aggressive Grundstimmung geschürt, die sich gegen die Adipösen wendet…

Alles also nur halb so wild? – Jein. Erschreckend ist für mich, wie wenig die Politikerin sich in dieser gesundheitsplotischen Kernfrage auskennt, wie viele Fakten ihr nicht bekannt sind: dass zum Beispiel Menschen mit einem BMI von 30 und mehr bei den meisten Kassen gar nicht mehr in eine Zusatzversicherung aufgenommen werden! Das ist ein echter Skandal und eine gravierende Diskriminierung! Und dass in der Schweiz für die Übernahme der Kosten bei chirurgischen Eingriffen (Magenband und -Bypass) europaweit die restriktivsten, schikanösesten Auflagen bestehen. – Offen wird zugegeben, dass sich die Gesundheitskommission des Nationalrates mit diesen Fragen bisher noch gar nie richtig beschäftigt hat. Hier liegt das Problem und hier haben wir einen riesigen Nachholfbedarf.

Frau Nationalrätin, suchen Sie das Gespräch mit uns! Machen Sie sich kundig und vertreten Sie Positionen, die nicht diskriminieren, sondern die der Prävention dienen und echte Anreize zu gesundheitsbewusstem Verhalten schaffen. – Irgendwo im Interview steht der Satz: Man muss nur aufpassen, dass es keine Unschuldigen trifft, zum Beispiel krankhaft Übergewichtige mit einer besonderen genetischen Veranlagung. Danke, das ist gut gesagt und gut gemeint… aber extrem schwierig im Vollzug, denn die Grenzen sind fliessend, die genetische Veranlagung kann viele Formen haben und erst zum Ausbruch kommen, wenn die Umwelt-Einflüsse und die Lebensbedingungen ungünstig sind. Und vieles von dem, was heute ansteht, ist die Folge von mangelhafter oder fehlender Aufklärung und Information. – Wir haben noch viel zu diskutieren. Ich bin gerne dabei.


2 Kommentare zu “Kassenwahn”

  1. Magerbaum sagt:

    Danke für den ausgewogenen, aber auch deutlichen Kommentar. Aus meiner Sicht sollte übrigens Frau Humbel das ganze Interview baldmöglichst öffentlich zugänglich machen und ergänzende Anmerkungen zum obigen Kommentar anbringen. Dies auch im Interesse ihrer eigenen Glaubwürdigkeit.

  2. S.Teichert sagt:

    Da haben wir aber ähnliche Probleme!
    Manchmal, da schlage ich etwa die Wochenzeitschrift Freitag (D) auf. Und ich denke mir: Hui, die haben aber auch ein paar Sorgenkinder bei sich…

    Dann hatte ich privat !!! den Peter Handke geschrieben, er möge sich doch bitte nochmal differenzierter zu seiner Gras~Stellungnahme im Focus, damals, öffentlich äußern.

    Und auch der Elfriede Jelinek schrieb ich, dass mir eine „ungeschönte“ Stellungnahme zu den Rückläufen ihres Theaterstücks über die RAF wirklich im eigenen Verständnis weiterhelfen könnte.

    Ich schlug ihnen doch vor, es so einzurichten, dass ich die Artikel auch auf perlentaucher.de finde, sie nicht zufällig verpasse.

    ..und jetzt sagen Sie: Egal wo, die Zeitungen lassen keine Pressefreiheit zu! Na, ich gebe ihnen für meinen Fal aber Recht. Handtke und Jelinek sollten erfahrungsmäßig im Umgang mit den Zeitungen ausreichend geübt sein, um nicht unglaubwürdig erscheinen zu müssen.

    Den Großen deutschprachigen Zeitungen – bedenke etwa Sorgenproblemzöglingebene Freitag, zBsp. – empfehle ich, sich nach den Perlentauchern (D) zu richten.

    Verbeugend,
    S.T.

Comments are closed.