14/2  Der Leidensdruck

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 23:20

Wir sind wieder mal beim Spätschoppen („Zwei Mineral, bitte, einmal mit und einmal ohne!“) nach der Aquafit-Stunde und das Gespräch kreist unausweichlich um den kommenden Arztbesuch und um die grosse Schwierigkeit, das Soll-Gewicht noch rechtzeitig zu erreichen.

Freund Rolf, heute wieder einmal von inquisitorischer Insistenz, bohrt schon zu zweiten Mal nach: „Ich will dir nicht zu nahe treten“, bereitet er sein Statement vor, „aber wie war das denn vor rund 10 Jahren, da hast du doch auch in einem Zug fast 35 Kilo abgenommen? Wie hast du das denn damals gemacht?“

Ich erkläre ihm, dass ich versucht habe, aus freien Stücken so zu essen, als ob ich ein Magenband trüge: Ausgewogen ausgewählt, in kleinsten Mengen und unendlich langsam fein gekaut… – „Ja und“, fragt Rolf, mit fast unverhohlener Naivität, „weshalb kannst du das denn heute nicht wieder so machen und nochmals 30 Kilo abnehmen?“

Die Frage trifft in den Kern des Problems. Inzwischen habe ich mich auf dem tieferen Niveau einigermassen stabilisiert, wenn auch temoprär mit einer leichten Tendenz nach oben. Aber weshalb will und will es nicht gelingen, mit einem grossen und konsequenten Effort die Mauer der Stabilität erneut nach unten zu durchstossen?

Die Antwort zeigt das verflixte Dilemma. Damals, mit 165 Kilo, war das Leben eine schier unerträglich Last, der Atem ging pfeifend, das Herz raste nach 4 Tritten auf der Treppe, die Knie schmerzten bei jedem Schritt, ans Schuhebinden war nicht zu denken und in der Telefonkabine gab es keinen Platz für mich, von Flugzeugsitzen und Duschkabinen abgesehen… – Mit andern Worten: Damals gab es einen massiven Leidensdruck, der jede Unbequemlichkeit mit einem konsequenten und strengen, wenn auch ausgewogenen und überwachten „Regime“ vorübergehend auf sich nehmen liess. Und der Erfolg motivierte, nicht nachzulassen.

Heute, immer noch knapp 30 Kilo leichter, ist das Lebensgefühl ein total anderes: Kinosessel sind kein Problem, Telefonkabinen gibt es nicht mehr, im Flugzeug ist der Original-Sicherheitsgurt meist lang genug, hinter dem Lenkrad habe ich bequem auch im kleineren Auto Platz, die Gelenke schmerzen nur noch moderat… kurz und gut, das Dasein ist keine grosse Qual mehr und die allgemeine Lebenslust, die Versuchung, der Genuss haben heute leichteres Spiel, mich zu überreden, doch dieses eine Mal Fünfe gerade sein zu lassen, morgen sei ja auch noch ein Tag, und wenn man eingeladen sei, könne man keine Sonderwünsche anmelden, wenn doch der Hausherr so exzellent kocht…

Drum, lieber Rolf, ist es leicht gefragt, ob ich denn nicht „einfach“ auf die gleiche Tour nochmals eine 35-Kilo-Scheibe von meinem alten Speck herunterhobeln könnte… Ich kann nicht. Und, ganz ehrlich gesagt, ich will eigentlich auch nicht wieder ein so striktes Ernährungsmanagement einhalten müssen. – Bin ich schwach? Nicht schwächer als die meisten. Und darum froh, dass mir der Arzt ab nächster Woche ein neues Modul verordnet, von dem er sich (und mir) verspricht, dass es etwas bewegt, nach unten. Ich bin gespannt. Wir werden sehn.