1/2 Die Mandel
Kategorie: Allgemein Von Heinrich von Grünigen um 22:27 |
Wir trafen uns in Bern, in der Lobby des Hotels Bellevue-Palace, neben der Bar, in der während den Sessionen schon so viele Politkomplotte geschmiedet worden sind. Es ging darum, mit einem Pharma-Anbieter die Möglichkeiten für eine Sponsoring-Partnerschaft auszuloten.
Wir bestellten Mineralwasser. Und die Bedienung brachte dazu ein Schälchen mit Salzmandeln. Von der besonderen Sorte, knusprig geröstet, in strahlendem Weiss, mit den kleinen Kristallen bestreut. Es ist die Art von Apéro-Versuchung, der ich zu vorgerückter Stunde in einem Lokal einfach nicht widerstehen kann. Es ist verhext, aber die Barkeeper stellen die Dinger immer direkt vor meine Nase, als spürten sie instinktiv, dass bei mir ein markantes Verführungspotenzial vorhanden ist.
Und wenn ich einmal begonnen habe, gibt es kein Halten mehr. Völlig selbständig und ohne Willens-Steuerung wandert meine Hand zu den weissglänzenden Dingen, die Finger picken sich eines heraus und schieben es möglichst unauffällig zwischen die Lippen, wo es knackend zwischen den Zähnen verschwindet, zerrieben und zermalmt wird, wieder und immer wieder… und ich bewundere die Menschen, die ungerührt und emotionslos einen ganzen Abend lang vor einer solchen Quelle der Knabberlust verharren können, ohne auch nur ein einziges Mal zuzulangen.
Heute Nachmittag habe ich während des einstündigen Gespräches zwar oft auf die Mandeln geblickt, aber ich konnte mich beherrschen. Stolz erfüllte mich und mischte sich auf angenehme Weise mit einem guten Gefühl, das mich beschlich, während ich meinen Gesprächspartnern schilderte, was unsere Stiftung so leistet, mit wenig Personal und viel Goodwill und grossem Engagement…
Erst ganz am Schluss, wir waren eben dabei, uns für einen nächsten Termin zu verabreden, in einem unbewachten Augenblick, quasi, schon im informellen Ausklang des Treffens, schnellte die rechte Hand elegant über das runde Tischchen, griff sich schwupps einen einzigen Kern und liess ihn in den Mund gleiten… Einen einzigen. Ich schaffte es, mich aus dem Bannkreis der Mandeln zu lösen, zuckte entschuldigend die Schultern, stand auf und verabschiedete mich.
Ich hatte über den Instinkt des Kellners und über meine eigene Verführbarkeit gesiegt. Und ich kaute auf dem Weg zum Bahnhof noch lange auf der einen Mandel herum, sie und ihren salzigen Nachgeschmack so richtig breit auskostend… und es wurde mir erst später, beim Lesen der neuen Blog-Einträge, bewusst, dass ich damit die Antwort an meine Schmauen-Protagonisten schon vorweg genommen hatte.