5/1  Leben B

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 23:20

Unsere Nachbarin, Frau Stuber, pflegte jeweils, wenn die Ferien um waren, nicht ohne ein mitleidigen Seufzen in der Stimme, zu sagen: Jaja, morgen fängt das Leben B wieder an. – Gemeint war damit die Schule.

Diese Unterscheidung zwischen einem „Leben A“ (das also für Ferien und Erholung steht) und einer Beta-Version, vergleichbar mit dem „Plan B“, wenn der Hauptplan schief läuft (das dann für Schule, Arbeit und Lernen steht), haben wir als Kids einfach so hingenommen. Wird wohl so sein, ohne viel nachzudenken, schliesslich, wenn es die Grossen sagen…

Dabei wäre es ja, logisch überlegt, wohl gerade umgekehrt: die Normalität, die uns die meiste Zeit des Jahres umfängt und beschäftigt, ist der A-Zustand, der unseren Alltag prägt… und der Ausnahmezustand, die Freiheit, das Ausspannen und das unvorhergesehene Erleben, das ist die B-Version, die so besonders und speziell ist, dass wir sie gar nicht das ganze Leben lang aushalten könnten.

Gelegentlich beschleichen mich fast unanständige Visionen: wie es wohl wäre, wenn man über genügend Geld verfügen würde, dass man sein Dasein permanent in der Südsee in einem Fünfsternehotel oder auf einer Luxusjacht verbringen könnte, nur mit den Fingern zu schnippen bräuchte, um ein Lieblingsgetränk und einen Leckerbissen heranzuwinken… – Ich fürchte, ich wäre nach drei Monaten kugelrund und 250 Kilo schwer… Kein Zustand, den ich auf Dauer haben möchte. Ab und zu mal daran nippen, mit Genuss, wenn es überhaupt dazu kommt. Aber eigentlich liegt der wahre Reiz solcher Traumzustände doch darin, dass man sie nur zu träumen braucht, ohne dass sie zum Alptraum werden können.