15/2  Verlorene Generationen

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 22:44

Die zwei Tage des ersten St. Galler Adipositas-Symposiums sind vorbei. Es war ein voller Erfolg, das Interesse gross und die Referate kompetent, verbunden mit guten Möglichkeiten zur fachlichen Vernetzung. Am Donnerstag die wissenschaftliche Auslegeordnung zum aktuellen Stand der Erkenntnis, für Insider nicht unbedingt „neu“, aber in der Fülle der Inhalte gerade für alle VertreterInnen anwendender Berufe eine erstklassige Informationsquelle. Und einige Befunde wurden aus einer ungewohnten Perspektive präsentiert, die es lohnt, genauer angesehen und reflektiert zu werden.

Am Freitagvormittag dann eine politische Bestandesaufnahme: ein fulminanter Vortrag der Sportmedizinerin Christine Graf (Köln), die eine umfassende Darstellung eines idealen Programms zur Adipositas-Prävention gab, dann der interimistische Abteilungsleiter „nationale Präventionaprogramme“ aus dem BAG, Martin Büechi, der als nüchterner Pragmatiker die politischen Realitäten unseres Systems skizzierte, mit denen bei der Umsetzung eines solchen Projektes in der Schweiz zu rechnen ist, und schliesslich Thomas Mattig, Direktor der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz.

Es lag auf der Hand, dass zwischen dem ungeduldigen und erwartungsvollen Drängen, das auf Seiten der Mediziner zu verspüren war, und der vorsichtigen, illusionslosen Haltung der Vollzugsbeamten im Gesundheitsdienst eine massive Lücke klaffen würde. Seit den 90er Jahren machen Ärzte und Wissenschafter auf die Dringlichkeit des Problems der Adipositasepidemie aufmerksam, und erst in den letzten zwei, drei Jahren sind die Dinge endlich ins Rollen gekommen… Und nun wird mit einer fast nonchalanten Selbstverständlichkeit darauf hingewiesen, dass der Prozess eben seine Zeit brauche und auch wenn jetzt zügig an Gesetzesgrundlagen und Massnahmen gearbeitet würde, dies doch für eine bis zwei Generationen von Kindern, die heute übergewichtig heranwachsen, noch keine Lösung bringen wird…

„Verlorene Generationen“ seien bei einem solchen politischen Langzeitvorgang zwangsläufig in Kauf zu nehmen… – Die Perspektive ist bedrückend und löst Wut und Betroffenheit aus. Die Fachwelt ist sich einig, dass es bereits „fünf vor Zwölf“ ist und dass Handeln dringendst angezeigt wäre. Dem wird (von vernünftigen Leuten) nicht einmal widersprochen. Aber weil die politischen Voraussetzungen in der helvetischen Republik nun einmal anders sind, wird es so schnell nicht gehen können. Basta.

Wenn dem so ist und wenn es wirklich diese ein bis zwei Generationen von Menschen in unserem Land geben wird, für die jede vorsorgerliche Hilfe, das Problem erfolgreich zu vermeiden, zu spät kommt, dann sollte von den entsprechenden Entscheidungsträgern wenigstens dafür gesorgt werden, dass die dermassen „Betroffenen“ eine optimale Unterstützung und Hilfe erhalten bei der medizinischen Behandlung ihrer unweigerlich anfallenden Krankheiten. (Das gilt im übrigen selbstvertändlich auch für die mehr als eine halbe Million Adipositas-PatientInnen, die heute schon an dieser Krankheit leiden und die ein bis zwei Millionen, die es noch tun werden!) – Aber auch hier ist die Perspektive eher düster: Seit Anfang 2008 müssten die Krankenkassen von Gesetzes wegen gewisse therapeutische Leistungen für übergewichtige Kinder bezahlen… aber noch streiten sich die Instanzen darüber, wie hoch die Ansätze sein sollen und unter welchen Bedingungen welche Leistungen wirklich kassenpflichtig sind. – Die Arbeit geht uns nicht aus. Das Symposium hat dies mit aller Schärfe aufgezeigt. Dafür gebührt den Veranstaltern unser Dank.