27/7  Lebensgefahr

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 23:41

Natürlich war das die gute alte Zeit: einmal im Jahr kam der Störmetzger auf den Hof. Schon Tage zuvor war alles vorbereitet worden, hatten wir Kinder Abschied genommen von den Tieren, deren Tod wir in Kauf nahmen, um essen und überleben zu können, der grosse Bottich war aufgebaut, der Ofen im Freien installiert, die Bank, an welcher der Metzger arbeitete, an einem gedeckten Platz.

Dann wurde das Schwein mit einem Bolzenschuss getötet, das Blut in grosse Kessel und Schüsseln abgelassen und in die Küche gebracht, der Kadaver im heissen Wasser gebrüht und die Borsten abgeschabt… dann wurde das Tier aufgehängt, halbiert und das Fleisch herunter geschnitten und von den Knochen gelöst. Die noch warmen Schinken kamen in Salzkisten, ebenso die Speckseiten. Das gute Fleisch wurde fachgkundig zurecht geschnitten, das weniger gute kam in den Fleischwolf, aus dem eine grobkörnige Wurstmasse floss, die dann wieder den Weg in verschiedene Sorten von Würsten fand, die entweder in den Rauchfang gehängt wurden, gebrüht oder gebraten, denn in der Pfanne brutzelte schon all das, was den besonderen Reiz der lange erwarteten Metzgete ausmachte.

Damals wussten wir bis auf die letzte Faser, was sich in den Fleischerwaren befand. Sogar der Darm für die Würste kam vom eigenen Tier, nachdem er ausgiebig am Brunnen gewässert und gespült worden war. – Ich erzähle das nicht aus Nostalgie, sondern weil wir damals noch ein Urvertrauen in die Lebensmittel hatten, die auf dem eigenen Hof erzeugt wurden und an deren Herstellung wir selber beteiligt waren. Allerdings: schon damals erzählte uns Onkel Otto von einem Besuch in einem Pariser Schlachthof, wo die Schweine zu Hunderten bereits industriell verarbeitet wurden, so dass jede Menschlichkeit im Umgang mit den tierischen Opfern abhanden gekommen war… und wir schätzten die individuelle Nähe zum Produkt umso mehr, wie wir sie erlebten.

Heute ist das Grundvertrauen in die Lebensmittel einer Skepsis gewichen, die durch täglich neue Enthüllungen geschürt wird. Von synthetischen Nahrungsmitteln ist die Rede, von gestreckten, künstlich ergänzten, gepanschten und verfälschten Produkten, die uns von cleveren Vermarktern untergejubelt werden, haarscharf an der Grenze des Legalen und Erlaubten entlang… Was steckt denn heute in einer Wurst? Ist es noch redliches Fleisch und Fett von einem in Ehren und natürlich gehaltenen Tier? Oder ist es aufgepeppter Abfall, künstliche hergestellter, aromatisierter Füllstoff?

Das Misstrauen geht bereits so weit, dass sich in den USA eine Verbraucher-Bewegung gebildet hat, die ernsthaft per Gerichtsbeschluss verlangen will, dass die Hersteller von Hot-Dog-Würstchen ihr Erzeugnis mit einer Etikette versehen müssen, auf welcher – wie bei den Zigaretten – vor der latenten Krebsgefahr gewarnt wird, die beim Verzehr eines Hot-Dogs lauern soll. Auch wenn man im Sinne der Transparenz eine solche Deklarationspflicht durchaus bejahen könnte, wäre es dann nicht angezeigt, auf nahezu allen fabrikmässig hergestellten Produkten den Hinweis anzubringen, dass das Leben – und insbesondere das Essen – an sich ganz grundsätzlich lebensgefährlich ist?