21/4  Die neue Hose

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 15:17

Der Schreck war gross, als ich bei der Routinekontrolle in der Arztpraxis auf die Waage stieg. Zuvor das eingespielte Ritual: Eine blitzweiss gekleidete Assistentin nahm mich lächelnd in Empfang, bat mich, die Schuhe auszuziehen und den Inhalt meiner Taschen auf einer Ablage zu deponieren (mit Schlüsselbund, Portemonnaie und Handy kommt da ein ganz schönes Zugewicht zusammen) und dann auf die kleine Plattform zu stehen. Es dauerte eine Weile, bis die elektronischen Ziffern auf dem Display ausgezappelt hatten und stille standen. Sage und schreibe anderthalb Kilo mehr als beim letzten Mal!

Das Gute an der bösen Sache ist, dass mein Arzt Verständnis hat. Er schimpft nicht und poltert nicht, redet mir nicht ins Gewissen; vielmehr hat er etwas verständnisvoll Tröstliches in seiner Art, wenn es darum geht, gemeinsam herauszufinden, wie es zu diesem Gewichtsanstieg gekommen ist. Auf dem Weg von der Waage ins Behandlungszimmer habe ich mir diese Frage ja auch schon durch den Kopf gehen lassen. An Ostern allein kann es nicht gelegen haben, denn danach hatte ich wieder versucht, die festlichen Schokolade-Ausrutscher zu kompensieren so gut es ging. Aber offenbar ging es nicht gut genug!

Da fiel mir mein Hosenkauf wieder ein. – Lange hatte ich die gleiche Jeans getragen, sie war schöner abgewetzt als jede teure Designerklamotte in Stonewashed-Look, aber sie hatte schon ein Loch in der rechten Gesässtasche und vor allem im Schritt war die Naht ausgerissen. Das sah man zwar nicht im normalen Alltag, aber beim An- und Ausziehen fiel mir das schon auf. Die Hose war mit der Zeit so etwas wie eine stille Referenz zur Gewichtskontrolle geworden. Am Mass, wie sie sich beim Anziehen über dem Bauch spannte, konnte ich abschätzen, wie es um meine Tagesform stand. War sie locker, so fühlte ich mich leicht. Zwickte sie mich und klemmte sie beim Schuhebinden eine Falte ab, so wusste ich, dass Vorsicht und Zurückhaltung angesagt waren.

Dann aber, in der Woche nach Ostern, war der Moment gekommen, wo ich mich von der löcherigen Hose trennen musste. Im Spezialgeschäft für grosse Grössen liess ich mich beraten. Es gab das gleiche Modell noch, in etwas feinerem Stoff zwar, aber geräumig im Schnitt und elastisch… und sie sass mir phantastisch! Sie spannte nicht, im Gegenteil, ich konnte den Gürtel sogar ins letzte Loch schliessen und fühlte mich beim Sitzen dennoch bequem und nicht eingeengt.

In der Arztpraxis wurde mir allerdings klar, dass die neue Hose mir in der Zeit, da ich sie hatte, unablässig die Botschaft vermittelte: Du bist leicht! Du bist dünn! Du hast abgenommen! – Dabei war das Gegenteil der Fall, und da die Hose mich sorglos machte, hatte ich guten Mutes das Leben und seine Annehmlichkeiten genossen. Mit Folgen, wie die Waage zeigte. Erkenntnis: Trau keiner Hose, die dir zu weit ist!