11/1  Ausgestellt

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 21:28

Auf keinem grösseren Rummelplatz meiner Jugendzeit hat sie je gefehlt. Meist stand ihr Zelt auf der Schützenmatte zwischen der Achterbahn und dem Pavillon des Schwertschluckers. Und für 50 Rappen konnte man ins schummrige Halbdunkel eintreten. Wenn man Glück hatte, gab es im Vorraum noch einige weitere Attraktionen: den zweiköpfigen Säugling in Spiritus, oder den unbeweglichen Fakir, der wie ein Nadelkissen gespickt war mit metallenen Stacheln… bei der Dame ohne Unterleib wusste man nie, ob nur ein Spiegeltrick dahinter war, dabei hätte einem doch damals gerade der untere Teil am meisten interessiert.

Sie aber war echt. Voll und ganz. Pompös thronte sie auf einem Gestell aus Holz und Eisen. Riesig, mächtig, prall. Die Netzstrümpfe spannten sich über angeschwollenem Fleisch, das sich zwischen den grossen Maschen unter gespannter Haut hervorwölbte. Aus einem immensen Mieder quollen die gebirgige Brüste nach oben… und die Mutigsten unter uns durften sie, nachem sie ihnen mit müden Augen nachsichtig und gelangweilt ihr Einverständnis zugeblinzelt hatte, eben dort anfassen, wie um zu prüfen, ob es wirklich ein leibhaftiger, lebenswarmer Menschenkörper war, der da überdimensioniert zur Schau gestellt wurde: die Dicke Berta.

Wir haben uns nichts dabei gedacht. Es gehörte zum Nervenkitzel, sich dem Ungewohnten zu stellen. Neugierde und Sensationslust kamen dazu. Und dann doch auch etwas Mitleid und Schamgefühl, aber erst später. Es war eine Art Mutprobe, Herzklopfen inklusive. – Sie sind vom Rummel verschwunden, die „dicksten Frauen der Welt“… vielleicht, weil es inzwischen keine Sensation mehr ist, jemanden mit 230 Kilo anzutreffen?

(Offenbar – das habe ich beim Suchen nach einer Quelle realisiert – ist diese Form der „dicken Berta“ eine urschweizerische Ausprägung. Im deutschen Sprachraum meldet Google unter diesem Begriff eine Fülle von verschiedenen Objekten: einen Leuchtturm, die berühmte Kanone aus dem Hause Krupp, einen Räucherofen, eine Wasserpfeife, ein Schiff, den ältesten Eichbaum im Sauerland… und schliesslich noch die Haushälterin in Kästners Pünktchen und Anton.)

Aber eigentlich wollte ich ja über etwas anderes schreiben, und die damalige Berta ist mir nur gedanklich in die Quere gekommen: heute hat FACTS einen Bericht veröffentlicht über zwei junge Frauen, Zwillinge, die unter dem Künstlernamen L. A. Raeven sich selber in Galerien als Kunstwerk ausstellen. Das Besondere daran: sie sind beinmager, anorektisch, ausgehungert… und offenbar eine Publikums-Sensation.

Schon regen sich berechtigte Bedenken: besteht nicht die Gefahr, dass durch solche Exponate die Magersucht als Vorbild verherrlicht wird? Haben ausgemergelte Kreaturen nicht etwas Bedmitleidenswertes an sich, so dass man sie vor öffentlicher Betrachtung schützen muss? – Auf der andern Seite: als der österreicher Aktionskünstler Hermes Phettberg sich 1994 selber in einer Galerie splitternackt an den Boden kettete, da gab es in der Szene ein Gemurmel… aber keinen Skandal.

Wenn der öffentliche Diskurs bereits Erfolg verheisst, dann hat – wie man sagt – der Zweck denselben erreicht.