7/7  Diskriminiert oder nicht?

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 15:35

Selten, sagt die Mitarbeiterin von Radio 24, habe eine Mitteilung so viele Emotionen geweckt wie diese. Es seien aussergewöhnlich viele Anrufe von aufgebrachten Hörerinnen und Hörern eingegangen, die sich mit den betroffenen Übergewichtigen solidarisiert hätten.

Das ist zwar erfreulich und steht in wohltuendem Kontrast zur landläufigen Volksmeinung, dass die Dicken an allem Ungemach, das sie betrifft, ohnehin selber schuld seien, und doch ist die Sache wohl etwas komplexer.

Auslöser ist eine interne Weisung der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ), wonach Tram- und Bus-Chauffeure mit einem BMI von über 35 angehalten werden, abzunehmen. Sollte ihnen dies innerhalb einer gesetzten Frist nicht gelingen, so würde ihnen ein anderer Arbeitsplatz zugewiesen. Bei Neu-Anstellungen werden Kandidaten mit einem BMI über 35 gar nicht erst berücksichtigt. Die Gewerkschaft ist empört und spricht von Diskriminierung.

Mehrere Medien möchten eine Stellungnahme der SAPS. Die Fragen sind hart formuliert: Was sagen Sie dazu, dass die Chauffeure zu einer Diät verknurrt oder sonst zwangsversetzt werden? – Was soll man dazu sagen? Die Fragestellung an sich ist tendenziös: mit welcher Massnahme eine Gewichtsreduktion angestrebt wird, ist noch offen, wichtig ist, dass die Betroffenen dabei unterstützt und begleitet werden… und das Angebot eines neuen Arbeitsplatzes ist jedenfalls besser als eine Entlassung.

Ich habe mir die folgende Beurteilung zurechtgelegt:

Grundsätzlich ist es zu begrüssen, wenn ein Arbeitgeber seinen adipösen Mitarbeitenden eine Motivation zur Gewichtskontrolle bietet und sie dabei aktiv unterstützt. Positiv ist auch, dass alternative Arbeitsmöglichkeiten angeboten werden (solange diese nicht mit einer Lohneinbusse verbunden sind). Die SAPS vertritt schon seit längerer Zeit das Anliegen, dass im Rahmen der Kampagnen für Gesundheit am Arbeitsplatz auch der Adipositas-Problematik Beachtung geschenkt wird.

Wir anerkennen, dass es bestimmte Berufe gibt, bei denen „körperliche Besonderheiten“ einen Ausschlussgrund darstellen: ein Farbenblinder wird nicht Lokführer, ein Kranführer muss schwindelfrei sein und darf keine Höhenangst haben, ein Model muss über bestimmte Mindest- bzw. Idealmasse verfügen… So ist nachvollziehbar, dass eine zu grosse Körperfülle in einem Tram- oder Bus-Cockpit unter gewissen Umständen ein Sicherheitsrisiko bedeuten kann.

Für den einzelnen Betroffenen stellt diese Regelung sicher einen unangenehmen Eingriff in seine persönliche Freiheit dar. Entscheidend ist jedoch, wie im Einzelfall mit den Leuten umgegangen und welche Art von Hilfe ihnen geboten wird.

Es wäre publizistisch wirkungsvoll, wenn man sich aufregen und in den Chor der Skandal-Rufer einstimmen könnte. Aber das Thema ist wohl differenzierter anzugehen: emotional ist die Empörung voll verständlich, rational ist der Entscheid nachvollziehbar. Offenbar liegt ihm eine nationale Weisung des Bundesamtes für Verkehr aus dem Jahre 2006 zugrunde, die Personen mit BMI über 35 davon ausschliesst, Lokomitvführer zu sein. Nun mag diese „Limite“ willkürlich erscheinen. Und es gibt auch ernst zu nehmende Stimmen von Fachleuten, die nicht verstehen können, weshalb adipöse Chauffeure in irgend einer Weise eine „Gefahr“ darstellen sollten…

Aus meiner persönlichen Erfahrung (mit BMI über 40) weiss ich, dass in dieser „Gewichtsklasse“ ein fixer Fahrer-Sessel in einem engen Cockpit zu einer erheblichen Einschränkung der Bewegungs- und Handlungsfreiheit führen kann. Ich würde mir die Ausübung eines solchen Berufes jedenfalls nicht (mehr) zutrauen…

Womit haben wir es also zu tun? Mit einem Vorläufer einer „sauren Gurke“? Mit einem ernsthaften Diskriminations-Problem? Einem leider aktuellen gesellschaftlichen Tatbestend (der untermalt wird durch die Tatsache, dass offenbar in der Schwezer Armee auch nur noch Dienst leisten kann, wer einen BMI unter 30 hat)? Warten wir ab, wie sich die Diskussion entwickelt.


Ein Kommentar zu “Diskriminiert oder nicht?”

  1. Es fehlt bei der ganzen Diskussion ein wichtiger Aspekt: Ist der Beruf als VBS-Chauffeur ein Risiko für die Entwicklung eines krankmachenden Übergewichts? Man könnte postulieren, die sitzende Tätigkeit mit fehlender körperlicher Aktivität, ausgeprägten Stressphasen im Verkehr, den unregelmässigen Arbeitszeiten und den ungünstigen Verpflegungsmöglichkeiten am Kiosk führen erst zum Übergewicht und stellen eine Folge des Berufsprofils dar. Vielleicht sollte einer der im Beruf dick gewordenen betroffenen eine Klage gegen den Arbeitgeber erwägen. Es wäre sehr interessant zu sehen, wie sich der Arbeitgeber VBZ dann verhalten würde

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