24/1  15 Jahre Therapie

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 21:40

Wenn das wirkliche Leben im Krimi vorkommt, sieht es nicht immer so aus, wie es ist. Das sagen zumindest die Polizisten, deren Alltag auf Streife weit weniger dramatisch verläuft als die Einsätze von Schimanski und Co. Der Dienstagabend-Krimi im Schweizer Fernsehen handelte indirekt von Adipositas, deshalb ist die Frage gestattet, wie es denn hier aussieht mit der wirklichkeitsgetreuen Abbildung.

Es ging um eine schöne, sinnliche Frau, eine Kunst-Sachverständige. Wie sich herausstellte, war sie vor Jahren im Gymnasium in der gleichen Klasse wie der ermittelnde Oberkommissar. Damals war sie sehr dick und wurde von ihren Mitschülern fertiggemacht, wurde mit Spottliedern eingedeckt, „fettes Schwein“ gerufen und „Miss Piggy“… 15 Jahre Therapie habe sie gebraucht, um nach einem Magenbypass und massivem Gewichtsverlust das Trauma und die Stigmatisierung zu überwinden.

Im Krimi, bei dem es um Kunstfälschung und Betrug, vorgetäuschen Selbstmord eines Galeristen-Paars und Mord ging, spielte sie eine zwielichtige Rolle, indem sie den Kommissar umgarnte und ihm Informationen entlockte, anderseits indem sie die Frau des Galeristen ermordete, da sie sich in diesen verliebt hatte. Am Schluss versucht sie blutige Rache zu nehmen am Kommissar, in dem sie einen ihrer früheren Peiniger wiedererkannt hat.

So weit, so konstruiert. Denn es ist ja ein Zufall, wie ihn nur das Leben schreiben kann, dass sie ausgerechnet ihrem einstigen Schulkameraden und Plaggeist wieder begegnet. Was mich aber weit mehr beschäftigt, ist die Frage, ob die Kränkungen, die man in der Kindheit wegen seines Übergewichts erdulden muss, tatsächlich dermassen gravierend sind, dass sie sich noch Jahrzehnte später in einen Mordplan umschmieden lassen?

Ich habe das selber nicht erlebt. In meiner Schulzeit war ich auf der Seite der Dünnen. Dicke gab es kaum. Die einzige Kollegin, die wir – wenn auch viel diskreter – auf schlimme Weise angemacht hatten, hatte leuchtend rotes Haar… und ich weiss nicht mehr, was uns zu diesem Verhalten angestachelt hatte, denn rational zu begründen war es nicht. – Gibt es denn Erfahrungen von Leuten, die als Jugendliche betroffen waren, und deren Martyrium sich mit dem im Krimi beschriebenen vergleichen lässt?