7/4  Prokrustes-Kleider?

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 17:15

Das haben wir in der Schule gelernt. In der griechischen Mythologie gab es einen Riesen, einen grauslichen Wegelagerer, der den Wanderern am Abend ein Nachtlager bot. Willigten sie ein – und das mussten sie wohl oder übel – steckte er sie in ein besonderes Bett, nach ihm benannt, das Prokrustes-Bett. Waren die Gäste zu lang für das Bett, hackte er ihnen kurzerhand die Füsse ab, bis sie passten. Und waren sie zu klein, so soll er sie auf einem Amboss in die Länge gehämmert haben, bis sie das Bett ausfüllten.

An diese unerfreuliche Geschichte, die noch heute als Symbol gilt für eine ausweglose Situation, in der man nur verlieren kann, oder für den Versuch, gewaltsam alle und jeden über den gleichen Kamm zu scheren – an diese Geschichte musste ich denken, als ich die Sache mit Dame Sally Davies las. Frau Davies ist Professorin und seit 2010 in England als Chief Medical Officer tätig, das ist die oberste Beraterfunktion der Regierung in Gesundheitsfragen. Sie ist verantwortlich für Planung und Umsetzung aller Präventionsstrategien und Massnahmen zur Gesundherhaltung der Bevölkerung.

Und nun lese ich einen reichlich bizarren Bericht aus dem Guardian. Demnach soll sich Frau Davies darüber geärgert haben, dass übergewichtige Menschen in den englichen Medien zunehmend „akzeptiert“ würden, anstatt dass man ihnen permanent klar machte, dass sie abnehmen sollten. Es sei unverantwortlich, dass ein grosser Teil der Bevölkerung heute der Meinung sei, es sei duchaus ok, übergewichtig und adipös zu sein… Diese Haltung werde noch dadurch gefördert, dass man auf die Bedürfnisse der Dicken eingehe, dass in der Mode auch fülligere Models zum Zug kämen, dass es ein immer grösseres Angebot an Kleidung in Übergrössen gebe, anstatt dass man die Dicken quasi zwinge, abzunehmen, weil sie sonst keine Kleider finden…

Das ist nun wohl der Gipfel an Zynismus und Menschenverachtung: da kämpfen weltweit engagierte Gruppen für „mehr Akzeptanz“, gegen Diskriminierung und Benachteiligung, setzen sich dafür ein, dass Menschen mit Übergewicht nicht ausgegrenzt werden… Und dann kommt die englische Ober-Staats-Ärztin und verlangt, dass sich die Menschen gefälligst nach der verfügbaren Kleidergrösse zu richten haben und nicht umgekehrt, dass man auf die immer grössere Anzahl Übergewichtiger nicht mehr mit angepassten Angeboten reagiere, um ihnen das Leben zu erleichtern, sondern dass man sie offiziell in ihrem Alltag schikanieren solle, so dass sie physisch gezwungen würden, sich gesünder zu ernähren und auf den Konsum von Zucker und von gesüssten Getränken zu verzichten.

So sinnvoll letzters auch sein mag: es geht nicht an, alle Bürger über den gleichen Leisten zu schlagen und sie in genormte Kleidung zu pressen. Vor allem, solange die vielschichtigen Ursachen der Adipositas – von Kindsbeinen an – nicht besser abgeklärt sind und solange nicht stringente Massnahmen getroffen wurden, um die Gefahren aus der Umwelt zu beseitigen. – Freundlicherweise hatte Frau Davies auch verlauten lassen, es sei unsinnig, zur Arbeit zu Fuss oder mit dem Fahrrad zu gehen, denn das Unfallrisiko sei bei diesen Fortbewegungsarten wesentlich grösser als wenn man im Auto unterwegs sei.

Wenn das wirklich die offizielle Meinung der obersten Gesundheitsverantwortlichen der Regierung sein sollte, dann hat England ein medizynisches Problem.