6/5  Kleiner Bruder

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 22:27

Visionen können etwas Beängstigendes haben. Neulich war ich an einer Tagung zum Thema „Patientenorganisationen im digitalen Zeitalter“. Welchen Einfluss hat die digitale Datenverarbeitung auf das Gesundheitswesen und die Rolle der Institutionen, die sich mit dem Wohl bestimmter Patienten-Gruppen befassen?

Ein einleitendes Referat zeigte die aktuelle Situation auf und beleuchtete einige der denkbaren Perspektiven. Die Digitalisierung schreitet unaufhaltsam voran und besetzt vor allem die mobile Kommunikation. Es gibt Hunderttausende von „Apps“ in den Bereichen Gesundheit, Wellness, Ernährung, die meisten davon gratis, bzw. zum „Preis“, dass die damit erhobenen – und wohl auch andere – Daten irgendwo zentral ausgewertet und kommerziell genutzt werden können.

Die eingesetzten „Geräte“ werden immer leistungsfähiger und immer kleiner. In USA gibt es schon einen briefmarkengrossen Sensor, der innen am Handgelenk aufgeklebt wird und der sämtliche gesundheitsrelevanten Daten wie Blutdruck, Sauerstoffgehalt, Puls, Blutzucker, Temperatur etc. dauernd misst und drahtlos an eine Meldestelle übermittelt. Werden Werte festgestellt, die von einer bestimmten Norm abweichen, schickt das System eine Mitteilung mit einer Verhaltensanweisung aufs Handy: der winzige „Big Brother“ klebt an deiner Haut und durchschaut dich, er weiss jederzeit, was du tust. Diese Vorstellung lässt die Visionen von George Orwell und Aldous Huxley zu romantischen Märchen schrumpfen. Und schon wird geforscht an einer „digitalen Pille“, die man schlucken kann und die aus dem Inneren des Körpers die gewünschten Daten nach draussen sendet.

Dennoch ist unser Drang zur digitalen Selbstdarstellung ungebrochen: jeden Tag werden weltweit in den Social Media über 250 Millionen Fotos hochgeladen, in denen Menschen Intimes von sich selber preisgeben, Täglich werden 2 Millionen Blogs geschrieben und aufgeschaltet, das Internet ist zum effizientesten medizinischen Berater geworden, in dem sich die Menschen vor und nach dem Arztbesuch kundig machen…

Ist das alles nun ein Segen oder wird es zum  Fluch? Es kann beides sein, je nachdem, wie man damit umgeht. Oberstes Gebot ist wohl die Wachsamkeit, verbunden mit einer kritischen Distanz. Ungelöst ist dann noch die Frage, was passieren würde, wenn einmal der Strom ausfällt….