10/3  Mit Risiko leben

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 17:05

Plötzlich bist du dran. Du gehörst zur obersten Risikogruppe. Du bist alt, deutlich über 65, du leidest an einer chronischen Erkrankung mit Nebenwirkungen, die alle das Risiko erhöhen, dem zurzeit grassierenden Virus rettungslos zum Opfer zu fallen. Und gleichzeitig rührt es dein Herz, wie sich alle um dich Sorgen machen. Die ganzen Massnahmen, die behördenseits erlassen werden, zielen einzig und allein darauf ab, dich vor der Gefahr einer Ansteckung zu bewahren. Du sollst den Kontakt mit den Enkelkindern vermeiden, sollst die öffentlichen Transportmittel nur noch im Notfall benutzen und wenn es gar nicht anders geht, du sollst Abstand selbst zu deinen Nächsten halten, kein Küsschen mehr kriegen und niemandem die mehrmals täglich gewaschene Hand schütteln…

Man müsste eigentlich dankbar sein für so viel Fürsorge. Jetzt hätte man Zeit, die Musse auszukosten, ganze Tage im Bett zu verbringen, sich lehrreichen und erbaulichen TV-Produktionen zuzuwenden. Aber macht man es?

Ich fahre morgen mit der Bundesbahn an eine Abdankung. Die letzte Ehre soll erwiesen werden einem ehemaligen Weggefährten, den man lange aus den Augen verloren hat. Ich habe die Empfehlung bekommen, jetzt fahre es sich am sichersten im Speisewagen, der sei aus unerfindlichen Gründen praktisch leer… Denn während sich jetzt viele Sitzungen im virtuellen Raum abspielen oder Veranstaltungen auf einen unbestimmten Termin verschoben werden, kannst du einer Abdankung nicht per Skype beiwohnen.

Ich stelle mich dem Risiko. Hätte es dem höchsten Prinzip gefallen, mich zu sich zu rufen, so hätte es dazu in meinem Leben schon manche günstige Gelegenheit gegeben. So bin ich munter und nehme das, was da kommen soll, mit einem Anflug von Gelassenheit. No risk, no fun.