9/4  Geistige Magersucht?

Kategorie: Allgemein    Von Heinrich von Grünigen um 15:02

Eigentlich ist es ein Skandal. Dass ein Blatt vom Renommee eines Tages-Anzeigers einen so ärgerlichen Text ohne mit der Wimper zu zucken abdruckt. Es geht um einen als „Analyse“ deklarierten Kommentar zur Nachricht, dass in Frankreich per Gesetz allzu dünne Models vom Laufsteg verbannt werden sollen. Vielleicht hat die Autorin des Kommentars ein gröberes persönliches Problem, von dem wir nichts wissen. Dagegen schreibt sie nun an. Aber das sollte nicht sein.

Sie geht davon aus, dass die „Dicken“ sich per Gesetz an den „Dünnen“ rächten möchten und behauptet, diese  würden „Dünnsein“ mit „Magersucht“ verwechseln, dabei sei Magersucht ja statistisch gar kein wirkliches Gesundheitsproblem, da weit mehr Menschen an Übergewicht litten und diese Zahl weiterhin im Zunehmen begriffen sei. Also ziele das Mager-Model-Verbot ins Leere bzw. stelle eine inakzeptable Diskriminierung der schönen Schlanken dar – und sei überedies dumm und lächerlich.

Wie dumm darf man denn selber sein, um solchen Quatsch nicht nur zu schreiben sondern auch noch zu glauben? Es geht jas nicht darum, die Models vor sich selber zu schützen, wenn sie sich Hungerkuren unterziehen wollen, um einen Beruf ausüben zu können, bei dem ungesunde Normen die Vorgabe sind. Es geht vielmehr um die fatale Vorbild-Wirkung eines Schlankheits-Ideals, das durch Mode und Werbung geprägt wird, sei es durch Photoshop-geschönte Makellosigkeit im Bild und durch unnatürlich staksende Superschlank-Models auf dem Laufsteg.

Das „Problem“ besteht nicht primär darin, dass junge Frauen und Mädchen ihren Schlankheits-Idolen nacheifern und ebenfalls spindeldürr sein wollen. Denn das gelingt den meisten von ihnen ohnehin nicht. Aber sie generieren durch den Vergleich eine Unzufriedenheit mit sich selber und dem eigenen Aussehen, sie leiden an einer beeinträchtigten Selbstwahrnehmung, fühlen sich bei Normalgewicht „zu dick“ schon in jüngsten Jahren (wovon Teenager-Eltern ein Lied zu singen wissen) und begeben sich auf einen selbstzerstörerischen Trip in den Magerwahn, bis hin zur Nahrungsverweigerung und im schlimmsten Fall zur Bulimie.

Auch wenn es nicht ganz so weit kommt, wird doch der Stoffwechsel auf Dauer in Mitleidenschaft gezogen durch unbeholfene und oft irrwitzige „Diät“-Versuche, mit dem Ziel, um jeden Preis so „dünn“ zu sein wie die Model-Vorbilder. Und die Folge? Extremdiäten stehen meist am Anfang einer Übergewichts-Karriere. Gestörtes Essverhalten kann später ins Gegenteil umschlagen. Frühe Magerkuren tragen zu einem erheblichen Teil zur noch immer anhaltenden Adipositas-Epidemie bei. Diese fatale Verkettung von Ursache und Wirkung hat die Autorin in ihrem Kommentar völlig ausgeblendet. Damit hilft sie niemandem. Aufschlussreich und tröstlich ist allenfalls, wie viele LeserInnen-Reaktionen ihr paroli bieten. Das müsste ihr eigentlich zu denken geben.


2 Kommentare zu “Geistige Magersucht?”

  1. Nachtrag:
    Von wegen „zu denken geben“… schon gestern Abend war beim TA-online die Kommentar-Funktion zu dem peinlichen Beitrag ausgeschaltet, man konnte sich nicht mehr äussern, man konnte aber auch die vielen kritischen (und die wenigen zustimmenden) Äusserungen nicht mehr lesen. Das ist offenbar der neue Qualitäts-Journalismus: Verweigerung des Dialogs unter Ausblendung von Kritik. Bravo.

  2. rhodiola sagt:

    immerhin hat Michele Binswanger eine sehr gute & intelligente „gegenanalyse“dazu geschrieben: http://blog.tagesanzeiger.ch/blogmag/index.php/38142/magersucht-ist-sucht-nach-disziplin/

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